An diesem Oktobertag des Jahres 1924 strömten zahlreiche Frauen in den Gürzenich, um der verstorbenen Mathilde von Mevissen zu gedenken. Die Kölner Frauenvereine hatten zu der Veranstaltung eingeladen und Dr. Li Eckart hielt die Trauerrede. Sie hob das langjährige Engagement der Kölnerin hervor, „die innere und äußere Freiheit der Frau erstrebt und Wege zu dieser Freiheit gebahnt“ hat. Mathilde von Mevissens Herzensanliegen war die Mädchenbildung gewesen und die Gründe dafür lagen in ihrer eigenen Kindheit und Jugendzeit.

Mathilde von Mevissen, vor 1924, © Rheinisches Bildarchiv Köln rba_630749

Mathilde von Mevissen musste schon früh die Erfahrung machen, dass selbst die Herkunft aus einem wohlhabenden und kultivierten Elternhaus keine Garantie für eine gute Ausbildung war. Geboren in Köln am 30. Juli 1848 wuchs sie mit ihren vier Schwestern „vornehm und herrschaftlich“ auf. Getrübt wurde ihre Kindheit durch den frühen Tod der Mutter Elisabeth, die bereits 1857 nach der Geburt ihres fünften Kindes verstarb.

Gustav von Mevissen zählte zu den wichtigsten Kölner Industriellen. Als Mitglied der Nationalliberalen vertrat er die Interessen des konservativen Besitz- und Bildungsbürgertums und verfügte über weitreichenden Einfluss. Gleichzeitig machte er sich als Mäzen von Kunst und Kultur einen Namen.

Auf die Erziehung seiner Töchter hatte das alles jedoch keinerlei Einfluss. Mädchenbildung stand nicht auf seiner Agenda, stattdessen legte er großen Wert auf die „sittliche Erziehung“. So engagierte er Hauslehrer, deren Aufgabe es war, die Mädchen auf ihre spätere Rolle als Hausfrau und Mutter vorzubereiten. Dass sowohl Mathilde als auch ihre Schwester Melanie ein Leben lang unverheiratet bleiben würden, hat er sicherlich nicht geahnt.

Mathildes Tagebuch existiert heute leider nicht mehr. Fest steht, dass der Vater zuhause ein strenges patriarchalisches Regiment führte und keinerlei Eigenständigkeit seiner Töchter duldete. Ohne Begleitung durften sie das Elternhaus in der Zeughausstraße 2a (heute Sitz der Kölner Bezirksregierung) nicht verlassen, obendrein kontrollierte er ihre Korrespondenz und schrieb vor, welche Bücher sie lesen durften. Eigenes Geld stand ihnen nicht zur Verfügung.

Wohnhaus von Mevissen in der Zeughausstraße 2, © Uta Greve

Die kluge Mathilde langweilte sich und litt unter ihrem sinn- und perspektivlosen Dasein. Befand sich der Vater auf Geschäftsreise, schlich sie heimlich in seine Bibliothek, um sich mit anregender Lektüre zu versorgen. Dr. Li Eckart vom Verband der Kölner Frauenvereine verriet auf ihrer Trauerrede im Gürzenich: „Sie versteckte die Bücher unter der Matratze und las die Nächte hindurch alles Mögliche, was sie nur erwischen konnte. Hauptsächlich waren es religiöse und philosophische Schriften, denen sie sich mit Eifer hingab.“

Das mochte Mathildes innere Leere vorübergehend füllen, eine systematische Ausbildung ersetzte dieser nächtliche Lesemarathon aber nicht. Weil sie sich mit niemanden über das Gelesene austauschen konnte, zog sie sich immer mehr in sich selbst zurück. Freundinnen hatte sie damals offenbar keine. „So galt sie denn bald als die überspannte Mathilde, die Schwärmerin, die immer in einer anderen Welt lebte“, erinnert sich ihr Verwandter Eckart von Mevissen.

Mathilde von Mevissen war schon über vierzig Jahre alt, als ihr Leben eine entscheidende Wendung nahm. Offenbar hatte der Vater inzwischen „die Zügel ein wenig gelockert“ und sie mit kleineren Büroarbeiten betraut. Weitaus wichtiger aber war, dass ihr damals, Ende der 1880er Jahre, ein Buch über die Frauenfrage in die Hände fiel, das ihr plötzlich die Augen öffnete. Eckart von Mevissen konnte beobachten: „Ihre vielseitige Bildung, ihr Hunger nach Betätigung, nach wirklicher Leistung…ihr trostloses Dasein in den Fesseln strenger Konvenienz, all das ließ das Wort von der Befreiung der Frau wie eine Erlösung auftauchen.“

Graffiti am Parkplatz der Mathilde von Mevissen-Schule in Köln Nippes, © Irene Franken

Nach diesem „Erweckungserlebnis“ suchte Mathilde unverzüglich Kontakt zur Frauenbewegung, wenngleich sich der Vater und Teile der Verwandtschaft zutiefst empört zeigten. In den 1890er Jahren gründete Mathilde von Mevissen zusammen mit anderen Frauen, darunter ihre Freundin und Lebensgefährtin Elisabeth von Mumm, den Kölner Frauenfortbildungsverein (KFFV), die Basis der Kölner Frauenbewegung.

Aber erst nach dem Tod des Vaters 1899 konnte Mathilde von Mevissen frei schalten und walten, zumal sie das elterliche Erbe auch finanziell unabhängig machte. Aufgrund ihrer eigenen schlechten Erfahrungen hinsichtlich der Ausbildung lag ihr vor allem die Mädchenbildung am Herzen: „In jeglichem Wissen bin ich Homöopath“, bekannte sie, „habe stets nur die allerkleinsten Dosen genommen.“ Der künftigen Frauengeneration sollte es besser gehen. Der Kampf um die Mädchenbildung wurde mehr und mehr zu ihrem Lebensinhalt. Ihr wichtigstes Projekt war die Eröffnung des ersten humanistischen Mädchengymnasiums am Apostelnkloster im Jahr 1903. Weil die Eltern ein Schulgeld zu entrichten hatten, stand die Schule nur „höheren Töchtern“ offen. 1909 ging das Gymnasium in städtische Obhut über.

Ratsturmfigur von Sepp Hürten, © Stadtkonservator Köln

Ein weiteres Anliegen war Mathilde von Mevissen die politische Bildung von Frauen. Wie ihr Vater, so war auch sie inzwischen Mitglied der Nationalliberalen und versuchte mit Hilfe der Partei, die Interessen ihrer Geschlechtsgenossinnen durchzusetzen. Dass sie damit auf – männlichen – Widerstand stieß, hat sie zutiefst enttäuscht.

Mathilde von Mevissen war wie einige andere bürgerliche Kölnerinnen Mitglied im Verein für Frauenstimmrecht, warb aber nicht dafür. Sie fand die Forderung des Dachverbands nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Stimmrecht für Männer und Frauen zu weitgehend.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 setzte neue Prioritäten. Wie viele andere Kölnerinnen engagierte sich Mathilde von Mevissen jetzt „fürs Vaterland“, arbeitete in der Nationalen Frauengemeinschaft mit, organisierte die Unterstützung von Bedürftigen und stiftete gemeinsam mit ihrer Schwester einen Lazarettzug.

Allmählich aber ließen ihre Kräfte nach. Mathilde von Mevissen starb am 19. März 1924 und wurde im Familiengrab auf dem Kölner Melatenfriedhof beigesetzt. Inzwischen erinnert auch eine Figur am Rathausturm an das unermüdliche bildungspolitische Engagement der in dieser Hinsicht zu kurz gekommenen „höheren Tochter“.

Autorin: Karin Feuerstein-Prasser

Quellen

  • Elisabeth Amling, Mathilde von Mevissen 1848-1924 in: 10 Uhr pünktlich Gürzenich. Hundert Jahre bewegte Frauen in Köln, hgg. Vom Kölner Frauengeschichtsverein 1995
  • Elisabeth Amling, Unverkürzte humanistische Bildung auch für die Frauen in: 10 Uhr pünktlich Gürzenich…
  • Barbara Hohmann, Da ich unglücklich war und wohl etwas unterdrückt. Mathilde von Mevissen und die Mädchenbildung in: Jahrbuch 75 des Kölnischen Geschichtsvereins 2004