Sie war zweifellos eine der prägenden Figuren der Kölner Kulturlandschaft, die streitbare Pianistin und Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeyer. Sichtbar wird ihre unkonventionelle Einstellung zum Leben auch an dem Haus in der Geibelstraße 5 in Köln-Lindenthal, in dem sie nahezu ein Leben lang gewohnt hat: In den 1970er Jahren ließ sie die Fassade in „Bretterwand“-Optik gestalten und sorgte so für einen Hingucker. Doch auch sie selbst war eine eindrucksvolle Erscheinung, hoch gewachsen, mit auffallend hennarotem Haar und einem typisch rheinländischen Humor.

Über Grete Wehmeyers Kindheit ist nichts weiter bekannt. Geboren wurde sie am 5. Oktober 1924 in Köln. Der Vater soll als Werbetexter, die Mutter in der Textilbranche gearbeitet haben. Auf jeden Fall waren die Eltern gutsituiert, ansonsten hätten sie sich wohl kaum ein Haus im noblen Stadtteil Lindenthal leisten können.

Grete Wehmeyer
© Grete Wehmeyer

Die junge Grete erhielt Klavierunterricht, und offenbar stand schon früh fest, dass sie ihre Leidenschaft für Musik zum Beruf machen wollte. Neben dem Klavierstudium an der Kölner Musikhochschule studierte sie auch Musikwissenschaften an der Universität Köln. 1950 beendete sie das Studium mit der Dissertation zum Thema „Max Reger als Liederkomponist. Ein Beitrag zum Problem der Wort-Ton-Beziehung“.

Ihren eigentlichen Berufswunsch, Konzertpianistin zu werden, musste Grete Wehmeyer jedoch vorzeitig aufgeben. Zu groß war ihre Nervosität bei Auftritten, und das meist elitäre und höchst anspruchsvolle Publikum scheint sie zusätzlich eingeschüchtert zu haben. Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, gab sie Klavierstunden und wurde zu einer äußerst beliebten Lehrerin.

Daran erinnerte sich auch die taz-Autorin Sabine Seifert: „Sie war mütterlich, ohne bemutternd zu sein, und missionierend war sie nie. Sie war locker, pragmatisch, keine Triezerei mit Etüden.“ Daneben hielt Grete Wehmeyer Vorträge an der Volkshochschule Köln, bei der GEDOK, der ältesten Frauenvereinigung der deutschsprachigen Kulturwelt sowie am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni Köln. Ab 1968 war sie freie Mitarbeiterin beim WDR.

Doch sie blieb Pianistin. Inzwischen pflegte sie am Flügel das Format der Gesprächskonzerte, eine eigentlich eher an Universitäten und Musikhochschulen praktizierte Form des Unterrichts. Dabei wird dem Publikum mit Hilfe von Erläuterungen und Hintergrundinformationen ein Einblick in die aufgeführten Stücke und deren Entstehungsgeschichte gegeben. Meist bevorzugte Grete Wehmeyer die Komponisten der klassischen Moderne. So machte sie aus ihrem Haus in der Geibelstraße einen Salon und verschaffte ihren Gästen unterhaltsame Abende: „Immer gab es anregende, belebende und oft auch kontroverse Gespräche über das Dargebotene…und über Gott und die Welt“, erinnerte sich der Verleger und Musikwissenschaftler Dr. Peter Päffgen in seinem Nachruf.

Die Gesprächskonzerte wurden zu ihrem Markenzeichen. Damit ging sie zwischen 1964 und 1978 „auf Tournee“ an den Goethe-Instituten in Afrika und Asien. Diese Reisen erweiterten ihren künstlerischen Horizont, denn hier lernte sie ganz andere Musiktraditionen kennen, frei vom Zwang zur Virtuosität, Tiefsinn und Pathos. Das hat Grete Wehmeyer entscheidend geprägt und ihre Vorliebe für die Komponisten französischer Avantgarde nur noch verstärkt. So verfasste sie allein über Erik Satie (1866-1925) mehrere Bücher, weil sie die Einfachheit und Klarheit seiner Werke schätzte. Satie hatte die Überzeugung vertreten, dass ein Komponist nicht das Recht habe, „die Zeit seiner Zuhörer unnötig in Anspruch zu nehmen“. Entsprechend lehnte er Virtuosität und Raffinement ab. Das machte sich auch Grete Wehmeyer zu eigen.

Artikel im Kölner Stadtanzeiger über Grete Wehmeyers Haus
© Kölner Stadtanzeiger, 11.Juli 1979

Zur „Initialzündung“ aber wurde wohl 1980 die Lektüre des Buches „Klassik der Wiedergeburt. Zur Entmechanisierung der Musik“. Darin vertrat der niederländische Organist Willem Retze Talsma (1927-2008) die These, ein völlig falsch verstandenes, von der Musikindustrie und Teilen des Publikums forciertes Virtuosentum habe zur Folge, dass die Tempogestaltung im klassischen Musikbetrieb völlig aus den Fugen geraten sei. Viel zu schnell „exekutiere“ man Beethovens Kompositionen. Für Talsma bestand Virtuosität nicht in möglichst schnellem, sondern im „richtigen“ Tempo. Das sollte idealerweise mit den Rhythmen des menschlichen Körpers in Einklang stehen. Grete Wehmeyer sah das genauso und spielte folglich stets im halben Tempo. Durch die Fachwelt aber ging ein Aufschrei, manche erklärten Talsma regelrecht für verrückt.

Nichtsdestotrotz setzte sich auch Grete Wehmeyer freiwillig massiver Kritik aus, als sie 1983 das Buch „Carl Czerny und die Einzelhaft am Klavier (oder die Kunst der Fingerfertigkeit und die industrielle Arbeitsideologie) veröffentlichte. Darin griff sie die Theorien des Beethoven-Schülers Czerny massiv an, der auf Fingerfertigkeit und hohes Tempo setzte. Grete Wehmeyer konterte: „Die heutigen Höchstleistungen auf allen Musikinstrumenten und im Gesang sind ebenso das Produkt kapitalistischen Geistes wie der gegenwärtige Höchststand von Industrialisierung und Technisierung. Die Basis ist hier wie dort die Ideologie der Arbeit, die als Preis Askese fordert.“

Entsetzen in der Musikwissenschaft rief auch ihr 1989 erschienenes Werk „Preßißisimo. Wiederentdeckung der Langsamkeit der Musik“ hervor. Dazu schrieb der Spiegel (20/89): „Wehmeyers Klage über die virtuose Raserei passt genau in den Trend. Seit Michael Ende im alternativen Märchen Momo unheimliche graue Herren beim Zeitdiebstahl ertappte, fühlen sich sogenannte Zeitpioniere zum Widerstand gegen den allgemeinen Schweinsgalopp ermutigt.“

Grete Wehmeyer
Gartenbild mit Wasserspiel, Mitte der 1980er Jahre, © Grete Wehmeyer

Doch Grete Wehmeyer ließ sich nicht einschüchtern. Zwischen 1984 und 2002 gestaltete sie über hundert Mal im WDR-Hörfunk die Sendung „Zeitzeichen“, die sie in ihrem typisch rheinischen Singsang vortrug.

Die streitbare Künstlerin starb am 18. Oktober 2011 und wurde im Familiengrab auf dem Melatenfriedhof beigesetzt. Die Trauerrede hielt Dr. Peter Päffgen: „Heute haben wir sie zu Grabe getragen, die Pianistin und Musikologin, die Querdenkerin und Weltenbürgerin Grete Wehmeyer.“

Quellen