Ihr Impetus: Feministisches Gedankengut an die Stätte der Macht tragen
Herkunft
Ihre spätere Karriere war Lie Selter nicht in die Wiege gelegt worden. Geboren in Dortmund, aufgewachsen im Arbeitermilieu des Ruhrgebiets verbrachte sie die ersten zehn Lebensjahre in einer Bergarbeitersiedlung, denn „alle männlichen Familienangehörige waren Bergarbeiter, alle Frauen Hausfrauen“. Insofern schien auch die Zukunft der kleinen Lie bereits festgelegt: eine „gute“ Heirat, um ebenfalls Hausfrau und Mutter zu werden. Doch das Mädchen wollte dem rauen Milieu, in dem nicht selten Gewalt herrschte, unbedingt entfliehen. Lie empfand sich selbst als „Fremdkörper“ in der Familie, „ausgestattet mit einer dreifachen Portion Neugier“. Doch obwohl sie alles las, was ihr zugänglich war, durfte sie kein Gymnasium besuchen.
Kindheit und Jugend
Als Lie zehn Jahre alt war, verschaffte eine Erbschaft der Familie größeren finanziellen Spielraum und man zog aufs Land. Drei Jahre später beendete sie nach acht Jahren die Volksschule, zu jung, um eine Lehre zu beginnen. Die Eltern hielten es daher für ratsam, dass sich ihre Tochter in der Haushaltungsschule der Städtischen Bildungsanstalt für Frauenberufe auf ihr späteres Leben als Hausfrau und Mutter vorbereitete.
Hier hatte Lie das große Glück, dass ihre Fachlehrerinnen das Potential des Mädchens erkannten und sie nach Kräften förderten. So konnte Lie – gegen den Wunsch der Mutter – in der Berufsaufbauschule die Mittlere Reife machen und eine Ausbildung zur Erzieherin absolvieren. Nach dem Anerkennungsjahr in einer Behinderteneinrichtung zog die 20-Jährige nach Köln.
Befreiung
In Köln war die politische Aufbruchstimmung der frühen 1970er Jahre deutlich zu spüren. Frauen schlossen sich zusammen, politisierten und organisierten sich. Für Lie Selter begann eine prägende Zeit, in der sie zunächst zwei Jahre im Kinderladen der Pädagogischen Hochschule arbeitete.
Dank BaföG-Unterstützung, die die sozial-liberale Bildungsreform möglich gemacht hatte, ging für Lie Selter ein Traum in Erfüllung: Sie konnte an der FH Köln Sozialpägagogik studieren. In diesen Jahren von 1973 bis 1976 erlebte sie ihre „politische Reifung“, nicht zuletzt durch Frau Professorin Maria Mies. Diese „lehrte und schaffte Identität und engen Zusammenhalt unter den Studentinnen.“ Das erworbene Wissen wurde bald auch in praktische Aktionen umgesetzt.
Frauenpolitische Aktivistin
Mitte der siebziger Jahre lebte Lie Selter in einer politisch aktiven Wohngemeinschaft. Durch die Veröffentlichung des Buches „Schrei leise“ von Pizzey Erin wurde Gewalt gegen Frauen zum zentralen Thema für Lie Selter. Sie gehörte zu den Gründerinnen des Vereins Frauen helfen Frauen e. V., der vielfache Unterstützung erfuhr, vor allem durch die ASF (Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen), aber auch durch Kölner Presseberichte und ein Benefizkonzert der Bläck Fööss. Nach zähen Verhandlungen des Vereins und von Maria Mies mit der Stadt konnte 1976 das erste Kölner Frauenhaus eröffnet werden. Hier und im Verein hat Lie Selter viele Jahre lang ehrenamtlich gearbeitet. Die Erfahrung, ein solches Projekt erfolgreich umsetzen zu können, bestärkte sie in ihrem politischen Engagement. Initiativen aus zahlreichen Städten der BRD luden sie zu Vorträgen ein, um über Gründung und Aufbau eines Frauenhauses zu berichten. Insofern gab Frauen helfen Frauen e. V. den Startschuss für viele Projekte der autonomen Frauenbewegung und praktische politische Arbeit in unterschiedlichen Bereichen.
Seit 1978 leitete Lie Selter die Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle der AWO bis zu deren Schließung. 1979 wurde sie selbst Mutter einer Tochter.
Erste Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Köln
Der Deutsche Bundestag hatte Ende der siebziger Jahre eine Kommission eingesetzt, um den Fortschritt der Gleichstellung in den Ländern zu überprüfen. Diese Kommission empfahl, das Land mit einem Netz von Gleichstellungsstellen als Kontrollinstanzen für die tatsächliche Gleichstellung von Mann und Frau zu überziehen. Damit war ein Instrument gefunden, das der Frauenbewegung eine Lobby in den Institutionen verschaffte. Am 29. September 1981 beschloss der Rat der Stadt Köln die Einrichtung der Frauen-Gleichberechtigungsstelle. Köln war die erste Stadt in der Bundesrepublik, die ein Frauenbüro ins Leben rief.
Aufgrund ihrer Erfahrung und ihres vielfachen frauenpolitischen Engagements erhielt Lie Selter nach öffentlicher Ausschreibung die Stelle der ersten kommunalen Frauenbeauftragten Kölns.
In den 18 Jahren ihrer Amtszeit hatte sie mit erheblichem Widerstand der administrativen Hierarchie und deren komplizierten Entscheidungswegen zu kämpfen. Sie erfuhr Anfeindungen bis hin zu Gewaltandrohungen, aber auch viel Unterstützung wegen ihres Einsatzes für Frauenprojekte und die Frauenförderung von Stellenbesetzungen im Rahmen des Frauenförderplans. Es gelang Lie Selter, sich mit allen Frauenthemen von „Alleinerziehende“ bis „sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz“ bei der Stadtspitze Gehör zu verschaffen.
Mit den Jahren war ihr politischer Einfluss so groß geworden, dass sie nach parteipolitischem Wechsel in das Bürgeramt Köln-Kalk versetzt wurde. Doch auch in dieser Position machte sie sich als erste weibliche Amtsleiterin für Frauenrechte stark. Sie kämpfte gegen die Unterprivilegierung des Stadtbezirks, initiierte Maßnahmen zur Gewaltprävention und installierte eine Frauenberatungsstelle. Zuletzt wurde sie noch einmal versetzt. Sie organisierte und gestaltete nun die kinder- und jugendpädagogische Einrichtung KidS.
Lie Selter sagt über ihre Lebensbilanz
Abwechslungsreiches, spannendes, anstrengendes Leben, geprägt von Gegenwind und Anerkennung durch viele Frauen, aber auch einige Männer.
Manuskript: Lie Selter
Bearbeitung: Karin Feuerstein-Prasser, Anne Gutzmann
Lie Selter – Deutschlands erste kommunale Frauenbeauftragte – YouTube