Am 3.4.1817 wurde ich, Mathilde Franziska Giesler, als ältestes von 12 Kindern auf Gut Leveringhausen bei Blankenstein in Westfalen geboren. 

Im gebildeten wohlhabenden Milieu meiner Familie genoss ich eine für ein Mädchen gute Ausbildung durch Schulbesuch und Privatunterricht. Als mein Vater einen Großteil seines Vermögens verlor, war ich 17. Mir war klar, dass ich durch eine vorteilhafte Heirat meiner Familie helfen konnte. Ja, und ich liebte den zehn Jahre älteren Weinhändler Taboillot zunächst und stieg gesellschaftlich in die besten Kreise auf. Doch mein Mann war Trinker und schlug mich. Nach der Geburt meiner Tochter Johanna (Fanny) verließ ich ihn, Ausdruck meines Selbstbehauptungs- willens. Ich wurde in drei Instanzen schuldig geschieden, behielt mein Kind und geriet in wirtschaftliche Not. So schrieb ich Gedichte und gab Gebetbücher und einen Damen Almanach heraus. In Münster lernte ich 1845 Literaten kennen und nahm als einzige Frau an einem Debattierclub teil. Ich wurde eine frei denkende politische Journalistin.

Mathilde Franziska Anneke mit der Flechtfrisur, Zeichnung aus: Der Märker, um 1840
Mathilde Franziska Anneke mit der Flechtfrisur, Zeichnung aus: Der Märker, um 1840, © Der Märker

Fritz Anneke trat in mein Leben, ein aus politischen Gründen entlassener Offizier. Ich schenkte ihm zum Geburtstag eine rote Rose, das kam einer Verlobung gleich. 1847 zogen wir nach Köln, eine Großstadt unter preußischer Herrschaft. Wir fanden einen Geistlichen, der bereit war, eine geschiedene Katholikin und einen von der Armee geschassten Protestanten zu trauen.

(Jetzt gehe ich vom epischen Präteritum ins Präsens, denn…)

Nun wird die Erhebung der Frauen zu meiner Sache, die Streitschrift „Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen“ erscheint. Der Armenarzt Andreas Gottschalk, die Dichterin Emma Bunteschu und ich gründen in Köln ein „communistisch ästhetisches Clübbchen“. Unsere Wohnung Am Alten Ufer wird der Mittelpunkt des demokratischen Kölns.

1848 ist das Rote Jahr. Der Funke der Revolution in Paris springt auf Deutschland über. Das Kommunistisches Manifest von Marx und Engels erscheint, die Arbeiterklasse betritt die politische Bühne. Köln wird regionales Zentrum, Impulsgeber und Vermittler in der Revolution.

Am 3. März zieht eine Riesendemonstration von Handwerkern, Arbeitern und Dienstmädchen vor dem Rathaus auf. Sechs demokratische Forderungen des Volkes werden lautstark vorgetragen. Wie gerne wäre ich dabei gewesen, aber ich bin hochschwanger. Preußische Soldaten machen der Demonstration mit Gewalt ein Ende. Fritz und Gottschalk werden als Rädelsführer verhaftet und für drei Wochen eingesperrt. Mein Mann wird Erster Sekretär im Kölner Arbeiterverein („Freiheit, Brüderlichkeit und Arbeit!“), der es zeitweilig auf 8000 Mitglieder bringt. Die Schwestern sind noch nicht im Blick. Im Juli 1848 stürmen bewaffnete Polizisten unsere Wohnung. Fritz wird sechs Monate im Klingelpütz eingesperrt, ich gehe täglich zu ihm, mit Essen und beiden Kindern. Nachts schreibe ich. Der politische Sturm ist nicht vorbei, es gibt überall riesige Volksversammlungen und Proteste.

Die Neue Rheinische Zeitung (NRhZ) von Marx ist zu abgehoben für die breite Masse. Fritz als Herausgeber und ich als Redakteurin machen eine linke, radikaldemokratische, leicht lesbare Zeitung, die Neue Kölnische Zeitung (NKöZ), komplementär zur NRhZ, bescheidener, mit gleicher radikaler Zielsetzung. Ich verantworte nun die Zeitung alleine. Als sie für die Dauer des Belagerungszustands verboten wird, gebe ich – als Weib! – eine „Frauenzeitung“ heraus, und das ist mehr als ein Ersatztitel zur Täuschung der Zensur. Es gilt, die Befreiung der Arbeiter und die der Frauen zu verknüpfen! Schon die dritte Ausgabe meiner Frauenzeitung wird gestoppt. Als die NRhZ verboten wird, legt Marx die Reste seines publizistischen Erbes in meine Hände, bis wir die NKöZ auch einstellen müssen.

Skulptur auf dem Ratsturm (2.Obergeschoss)  Bildhauerin: Katharina Hochhaus, 2009
Skulptur auf dem Ratsturm (2. OG)
Bildhauerin: Katharina Hochhaus, 2009, © Raimond Spekking

Im Mai 1849 droht Fritz erneut Verhaftung, er flieht und schließt sich dem badisch-pfälzischen Feldzug gegen die preußischen Truppen an, ein gefährliches Unternehmen. Ich folge ihm in den Kampf – mit blutendem Herzen lasse ich die Kinder bei den Großeltern. Als Ordonanzoffizierin kämpfe ich auf dem Schlachtfeld der Revolution. Als die Festung Rastatt fällt, fliehen wir über den Rhein nach Straßburg, von da in die Schweiz. Freunde bringen uns die Kinder und versorgen uns mit Geld für die Reise ins Exil. Sieben Wochen dauert die Überfahrt in die USA. Dort findet sich eine Community von „Fourty Eightern“. Ich halte Vorträge und gebe für zweieinhalb Jahre eine „Deutsche Frauenzeitung“ heraus. Empörte Ehemänner schreiben mir, ihre Frau sei aufgeklärt genug. Ich engagiere mich gegen die Sklaverei und arbeite in der Frauenstimmrechtsbewegung mit. Als „woman between two countries“ bin ich Vermittlerin: die Antisklaverei-Bewegung will sich nicht der Frauenfrage stellen, und einige weiße Wahlrechts-Kämpferinnen verhalten sich rassistisch.

Ich bekomme in acht Jahren weitere fünf Kinder, vier sterben, was mich in tiefe Verzweiflung stürzt. Fritz und ich entfremden uns einander, wir trennen uns, bleiben aber zeitlebens

tief verbunden. Beim Überleben hilft mir meine Arbeit und die Beziehung zu der Dichterin Mary Booth, mit der ich bis zu ihrem Tod zusammenlebe. In dieser Zeit entstehen wichtige literarische Texte.

Mit 48 Jahren gründe ich das „Milwaukee Töchter Institut“, ein ambitioniertes Reformprojekt mit fortschrittlichem Lehrplan, das 18 Jahre erfolgreich besteht. Im Kampf um das Frauenstimmrecht werde ich in zentrale Positionen gewählt. Ich reise viel und rede auf nationalen Konferenzen. 1872 stirbt Fritz Anneke, vier Jahre später meine älteste Tochter. Ich selbst erkranke, verliere durch einen Unfall die Kraft meiner Hand und kann nicht mehr schreiben. Ich finde Ruhe in einem kleinen Haus auf dem Lande.

In den vielen Nachrufen nach meinem Tod 1884 werden in den amerikanischen Zeitungen meine journalistischen, literarischen und pädagogischen Arbeiten wortreich gewürdigt, selten aber meine politischen Leistungen als Sozialistin und Frauenrechtlerin.

In meinem Mutterland geschieht mir kaum Erwähnung, bis die Schwestern der Zweiten Frauenbewegung sich meiner erinnern, Bücher über mich schreiben und Straßen, Schulen und eine Briefmarke nach mir benennen.

Autorin: Ina Hoerner-Theodor (in Ich-Erzählperspektive verfasst)

Quellen

  • Mathilde von Taboillot, geb. Giesler, Damen Almanach, 1842
  • Mathilde Giesler, Die zerbrochenen Ketten,1844
  • Mathilde Franziska Anneke, Das Weib im Conflict mit den socialen Verhältnissen, 1847
  • Mathilde F. Anneke, Frauenzeitung, Nr.1, Köln, 27. 9. 1848
  • Mathilde F. Anneke, Mutterland – Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Feldzug 1848/49, 1853
  • Mathilde F. Anneke, Deutsche Frauenzeitung – Zentralorgan der Vereine zur Verbesserung der
  • Lage der Frauen, Jahrgang 1,  New York, 15. Oktober 1852
  • Mathilde F. Anneke, Das Geisterhaus in New York (Roman), 1864
  • Eleanor Flexner, 100 Jahre Kampf – Die Geschichte der Frauenrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten, 1978
  • Maria Wagner, Mathilde Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Dokumenten, 1980
  • Karin Hockamp, Von vielem Geist und großer Herzensgüte – Mathilde Franziska Anneke, 2010
  • Luise Pusch/Joey Horsley, Frauengeschichten, 2010
  • Michaela Bank, Women of two countries – German-American Women, Womens Rights and Nativism, 2012
  • WDR Zeitzeichen, Maren Gottschalk: Mathilde F. Anneke zum 130. Todestag, 25.11. 2014