Widerstand gegen das NS-Regime ist nicht immer nur mit prominenten Namen verbunden. So zählt auch die Schaustellerin Agnes Meyer zu den zahllosen Unbekannten, die sich mutig und selbstlos für ihre verfolgten Mitmenschen eingesetzt haben. Zumindest ihren jüdischen Mann hat sie so vor dem sicheren Tod bewahren können. Der Autor Henning Müller schreibt über Agnes Meyer: „Sie steht für ein Deutschland, dass in einer mörderischen Diktatur Moral und Anstand wahrte, Menschlichkeit gegen Unmenschlichkeit des Nazi-Systems setzte.“ Die ehrenvolle Bezeichnung „Mutter Courage vom Rhein“ trägt sie also durchaus zu Recht.

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Agnes, geboren am 3. Oktober 1896 in Geistingen, heute ein Stadtteil von Hennef an der Sieg, war die Tochter der katholischen Schaustellerfamilie Klauer. Als „Nesthäkchen“ wuchs sie mit siebzehn Geschwistern auf. Eigentlich war es gar keine Frage, dass auch sie früher oder später in das Familienunternehmen einsteigen würde. Doch dann machte der Beginn des Ersten Weltkriegs alle Pläne vorerst zunichte. Während der Kirmesbetrieb ruhte, wurde die 19-jährige Agnes zur Arbeit in einer Siegburger Munitionsfabrik verpflichtet. Hier lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, Julius Meyer aus Neuwied, der ebenfalls aus dem Schaustellergeschäft kam.

Nach ihrer Hochzeit 1920 und der Geburt des Sohnes Herbert im Jahr darauf zog die kleine Familie nach Köln und gründete im Stadtteil Kalk einen eigenen Karussellbetrieb. In den 1920er Jahren lief das Geschäft mit großem Erfolg.

Als 1933 die Nationalsozialist*innen an die Macht kamen, war Julius Meyer als Jude ständigen Schikanen ausgesetzt. Es stand zu befürchtet, dass der Betrieb, der auf seinen Namen lief, enteignet werden würde. Zum Glück fand sich eine Lösung, denn ein freundlicher Finanzbeamter überschrieb das Unternehmen an Agnes, die nun offiziell die Leitung übernahm.

Für Julius´ Familie gab es hingegen keine Rettung. Zunächst verlor sie ihr Hab und Gut, Julius‘ Schwester Rosa wurde 1942 nach Auschwitz deportiert, die Eltern noch im gleichen Jahr nach Theresienstadt, wo die Mutter bereits im Oktober verstarb. Um etwas über das ungeklärte Schicksal des Vaters, Wolf Meyer, zu erfahren, machten sich Agnes und Julius auf den gefährlichen Weg nach Böhmen. Tatsächlich fanden sie heraus, dass dieser noch lebte, und sie konnten sogar Kontakt aufnehmen. Doch 1943 wurde der Lagerhäftling nach Auschwitz überstellt und dort ermordet.

Im Juli 1944 entging Julius Meyer nur knapp der Deportation. Die couragierten Agnes erreichte, dass er mit einer Kolonne von „Ostarbeitern“ in Tschenstochau unterkam. Diese Intervention rettete sein Leben, auch wenn er schwere gesundheitliche Schäden durch die harte Arbeit davontrug. Als die Rote Armee Anfang 1945 vorrückte, verlegte man ihn in ein Krankenhaus in Patschkau (Paczków). Agnes wich nicht von seiner Seite. Während sich Julius allmählich erholte, kampierte sie im Wohnwagen ganz in der Nähe des Hospitals. Hier hatte sie ein schreckliches Erlebnis, das sie noch einmal mit dem ganzen Grauen des Nationalsozialismus konfrontierte: Sie sah mit eigenen Augen die ausgemergelten KZ-Häftlinge, die SS-Wachmanschaften nach der Auflösung der frontnahen Konzentrationslager auf die berüchtigten „Todesmärsche“ geschickt hatten. Das Leid dieser Menschen ergriff Agnes Meyer, und sie versuchte, ihnen ein paar Lebensmittel zuzustecken – und wurde von den Wachmannschaften zusammengeschlagen.

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Kurz vor Kriegsende konnte Julius Meyer das Krankenhaus verlassen, und auch Sohn Herbert, der sich vom Arbeitsdienst abgesetzt hatte, vereinte sich wieder mit seinen Eltern. Sicherheitshalber lebten die Männer in einem Versteck. Agnes bemühte sich derweil um Arbeit, um ihre Familie zu ernähren, denn sie erhielten keine Lebensmittelkarten. Die Familie überlebte den Krieg, während Julius´ Eltern und seine drei Schwestern im KZ ermordet worden waren. Seit 2013 erinnern Stolpersteine in Neuwied an diese Opfer des NS-Regimes.

Das Kölner Schaustellergeschäft gab es schon längst nicht mehr, aber das Leben mußte weitergehen. So zogen Agnes und Julius Meyer zusammen mit Sohn Herbert nach Neuwied, um den elterlichen Karussellbetrieb wieder aufzubauen. Es gibt ihn noch heute. Julius Meyer starb 1968. Danach führte Herbert das Unternehmen gemeinsam mit seiner Frau weiter, und auch die Enkel traten in ihre Fußstapfen.

Agnes Meyer zog sich vom Geschäft zurück und genoss einen ruhigen Lebensabend. Ihr couragierter Einsatz in der NS-Zeit schien längst vergessen – bis sie 1987 für ihr selbstloses Handeln mit der Bundesverdienstmedaille ausgezeichnet wurde. Nach kurzer Krankheit starb sie am 9. März 1990 in Neuwied. Die „Mutter Courage vom Rhein“ wurde 93 Jahre alt.

Anfang der 1950er Jahre hatte Julius Meyer Kontakt zu dem ebenfalls aus Neuwied stammenden jüdischen Schriftsteller Friedrich Wolf (1888-1953) aufgenommen, der die NS-Zeit in der Emigration überlebt hatte. Ihm schrieb er, dass er es nur seiner Frau verdankte, dass er überhaupt noch am Leben war. Daraufhin verarbeitete Friedrich Wolf das Geschehen in seinem Romanfragment „Karusselagnes. Geschichte einer tapferen Frau“ und setzte Agnes Meyer damit ein literarisches Denkmal.

Autorin: Karin Feuerstein-Prasser

Quellen

  • Henning Müller: Agnes Meyer. „Karussellagnes“ (1896-1990): Die „Mutter Courage vom Rhein“, in: Von Frau zu Frau. Auf der Suche nach der verschütteten Geschichte bedeutender Frauen in und um Neuwied, hrsg. vom Frauenbüro Neuwied 1993
  • Agnes Meyer “Karussellagnes” (fembio.org)