Eine sorglose Kindheit war Sibilla Hartmann, die am 19. Februar 1890 in der Kölner Poststr. 6 geboren wurde, nicht beschert. Die kinderreiche Familie war arm, und nach dem frühen Tod der Mutter wusste ihr Vater sich nicht anders zu helfen, als Sibilla in ein Waisenhaus zu geben. Dass sie schon so früh auf sich selbst angewiesen war, hat sie für ihr späteres Leben geprägt. Nach dem Besuch der Volksschule verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt als Lager- und Fabrikarbeiterin und besserte ihr karges Einkommen auf, indem sie abends in Heimarbeit Schirmstoffe nähte.
Aus einem nicht näher bekannten Grund muss es 1910 zu einem Konflikt mit dem Schirmfabrikanten gekommen sein, der schließlich vor dem Arbeitsgericht landete. Diese Erfahrung der Hilfslosigkeit und sozialer Ungerechtigkeit wurde für Sibilla Hartmann zum Schlüsselerlebnis. Weil sie das ändern wollte, beschloss sie, sich politisch zu engagieren. Noch im gleichen Jahr trat die überzeugte Katholikin dem Kölner „Windthorstbund“ bei, der politischen Jugendorganisation der Zentrumspartei, die nach dem Reichstagsabgeordneten Ludwig Windthorst benannt worden war. Frauen waren hier in der Minderheit. Sibilla Hartmann wusste genau, dass sie nur durch Fortbildung weiterkommen und ihre Ziele erreichen konnte. 1912 nahm sie beim „Volksverein für das katholische Deutschland“ an einem volkswirtschaftlichen Kurs teil, der ihr die Möglichkeit eröffnete, eine Anstellung als Sekretärin in der Kölner Ortsgruppe „Gewerksverein der Heimarbeiterinnen“ zu erhalten.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellte sie vor neue Herausforderungen und wies ihr gleichzeitig einen neuen Weg. Nachdem sie im Rahmen des „Nationalen Frauendienstes“ als Betriebsfürsorgerin bei den städtischen Bahnen gearbeitet hatte, wurde sie nach Kriegsende Mitarbeiterin des städtischen Wohlfahrtsamtes. Gleichzeitig startete ihre politische Karriere, denn als 1919 die Frauen das aktive und passive Wahlrecht erhielten, zog Sibilla Hartmann als Abgeordnete der katholischen Zentrumspartei in den Kölner Stadtrat ein. Ein Jahr später wurde sie auch Mitglied des Provinziallandtags der Rheinprovinz.
Der Schwerpunkt ihrer politischen Tätigkeit lag auch weiterhin bei der Förderung und Gleichstellung der Frauen vor allem im im Beruf, aber ebenso bei der Wohlfahrtsarbeit, speziell, was Kinder und Jugendliche betraf.
Sibilla Hartmann war keine bequeme Abgeordnete und sie hatte auch keine Scheu, sich notfalls sogar mit dem damaligen Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer anzulegen, der einmal geäußert hatte: „Frauensleute gehören nicht in die Politik.“ Mit ihm hatte sie eine heftige Auseinandersetzung über die Einführung des Jugendwohlfahrtsgesetzes, das der Oberbürgermeister aus Kostengründen ablehnte. Sibilla Hartmann versuchte, ihn im persönlichen Gespräch von der Notwendigkeit einer sinnvollen Jugendhilfe zu überzeugen. Doch als sie nicht weiterkam, machte sie auf dem Absatz kehrt und ließ Adenauer einfach stehen. So viel Herzensblut für die Sache hat ihm kolossal imponiert: „Weil Sie sich nicht verhalten haben wie die meisten Männer, sondern zu Ihrer Sache standen“, musste er schließlich eingestehen. Sibilla Hartmann erreichte ihr Ziel, das Jugendschutzgesetz konnte verabschiedet werden.
Sie ließ sich auch weiterhin nicht einschüchtern. Als sie 1933, wie alle weiblichen Abgeordneten, ihre Mandate niederlegen musste, wurde es ihre neue Aufgabe, sich für Opfer des NS-Regimes einzusetzen, weswegen sie 1944 vorübergehend inhaftiert wurde.
Gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs stand für Sibilla Hartmann fest, dass sie wieder in die Politik einsteigen würde. So gehörte sie 1945 zu den 19 Gründungsmitgliedern der CDU und war als einzige Frau der Programmkommission Mitverfasserin der sogenannten „Kölner Leitsätze“, des vorläufigen Parteiprogramms. Sie zählen zu den wichtigsten Gründungsdokumenten der CDU. Mit ihrem Bekenntnis zur Würde des Menschen, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Föderalismus legten sie die Basis für das Selbstverständnis der Partei.
Später wirkte Sibilla Hartmann auch bei der Gründung des CDU-Frauenausschusses mit und gehörte viermal der Bundesversammlung an, als Theodor Heuss bzw. Heinrich Lübke zum Bundespräsidenten gewählt wurden.
Gleich nach Kriegsende erhielt die CDU-Politikerin, die jetzt beruflich das städtische Jugendamt leitete, auch wieder ein Mandat im Kölner Stadtrat. Hier galt ihr besonderes Engagement den benachteiligten Kindern und Jugendlichen. 1957 konnte in der Bruder-Klaus-Siedlung in Köln-Mülheim das erste von mehreren „Kinderhäusern“ eröffnet werden. In diesem Modell lebten Pflegemütter mit mehreren Kindern zusammen und boten ihnen ein geborgenes und zuverlässiges Zuhause, das sie in ihren eigenen Familien aus verschiedenen Gründen hatten entbehren müssen. Es ist anzunehmen, dass auch ihre persönlichen Kindheitserfahrungen im Waisenhaus bei diesem Projekt eine maßgebliche Rolle spielten.
Mit 79 Jahren zog sich Sibilla Hartmann 1969 aus der Politik zurück und widmete sich ihren privaten Interessen. In der Hebbelstraße 75 in Köln-Bayenthal lebte sie zusammen mit einer früheren Arbeitskollegin, ihrer „Hausgenossin“, in einer lesbischen Beziehung. (In historischen Biografien wird dies immer wieder durch neutrale Bezeichnungen verschleiert).
Sibilla Hartmann starb am 23. September 1973 im Alter von 83 Jahren und wurde auf dem Melatenfriedhof beigesetzt. Ihr Grab ist inzwischen aufgelöst. Zur Erinnerung an die Verdienste der engagierten Politikerin wurde 1975 die Sibille-Hartmann-Straße in Köln-Zollstock nach ihr benannt.
(Die Schreibweise ihres Vornamens variiert übrigens. In der Sterbeurkunde aber steht Sibilla)
Autorin: Karin Feuerstein-Prasser
- Birgit Sack, Sibylla Hartmann 1980-1973 in: 10 Uhr pünktlich Gürzenich. Hundert Jahre bewegte Frauen in Köln, Münster 1990, S.130-134
- Sibille Hartmann – Wikipedia