Als Jüdin hat mich das Thema Antisemitismus lange Zeit begleitet. Schon meine Eltern sind seinerzeit als verfolgte Juden aus Polen und Bessarabien (Moldawien am Schwarzen Meer) nach Brasilien ausgewandert. Zahlreiche Verwandte meines Vaters wurden Opfer der Shoa, weswegen Deutsche und Nazis für mich lange ein und dasselbe waren.
Ich wurde 1942 als eines von vier Kindern in Sao Paolo/ Brasilien geboren. Meine Eltern waren kulturbewusst jüdisch, doch auch wenn sie die großen Feiertage einhielten, nicht religiös. Dafür spielte in unserer Familie Bildung eine wichtige Rolle. Seit meinem sechsten Lebensjahr gehörte ich der zionistisch-sozialistischen Jugendbewegung „Dror“ an, später „Schud Habonim“. Hier lernte ich Solidarität, Kollektivdenken, Naturbewusstsein sowie die Wertschätzung von Intellektualität. Ziel war es, später einmal in einem Kibbuz in Israel zu leben.
Nach dem Abitur studierte ich Pädagogik mit Schwerpunkt Erziehungs- und Berufsberatung, das ich fünf Jahre später mit Diplom abschloss. Obwohl oder gerade weil Brasilien 1964-1985 eine Militärdiktatur war, habe ich mich an der Universität in linken Organisationen politisch engagiert. Demonstrationen bestimmten damals unser Leben.
1968 lernte ich meinen späteren Mann Clemens kennen, einen in Köln geborenen Aktivisten, aufgewachsen in Brasilien. Wegen staatlicher Repressalien und zunehmender antikommunistischer Propaganda radikalisierte sich die oppositionelle Bewegung. Unsere „Zelle“ – eine Wohngemeinschaft von acht Personen, darunter zwei Priester (!) – agitierte konspirativ. Wir trugen falsche Namen, benutzten Codes und verteilten im Schutz der Nacht Flugblätter. Als Teil der Bewegung „Acao Popular“ habe ich bei Osram am Fließband gearbeitet, um Gleichgesinnte zu gewinnen. Doch man hat uns denunziert. Während einer großen Streikbewegung 1969 wurden Clemens und ich verhaftet, eingesperrt und voneinander getrennt – ohne Kontakt- und Besuchsmöglichkeiten. Man hat uns gefoltert und wir fürchteten um unser Leben. Ich wurde nicht nur als Kommunistin attackiert, sondern auch als Jüdin. Nur dank der Unterstützung durch meine Eltern und die jüdische Gemeinde kam ich nach vier Monaten frei. Clemens war ein halbes Jahr im Gefängnis, bevor er aus Brasilien ausgewiesen wurde. Damit ich ihn begleiten konnte, verkaufte mein Vater sein Auto und besorgte mir von dem Geld einen neuen Pass. Dass ich künftig mit meinem Mann in Deutschland leben würde, im Land der Täter, machte mir schwer zu schaffen. Deshalb gingen wir zunächst nach Israel, wo wir ein Jahr in einem Kibbuz lebten. Erst dann zogen wir nach Köln.
Von hier aus organisierten wir – vernetzt in ganz Europa – von 1970 bis 1976 finanzielle Unterstützung für Brasilien und leisteten journalistische Aufklärung durch die mehrsprachige Zeitung „Frente Brasileira de Informacoes“ (FBI.). 1970 kam unser erstes Kind zur Welt, Tochter Maite, 1977 folgte Oriana.
Schon als Kind war mir – zunächst noch unbewusst – die Benachteiligung von Frauen und Mädchen aufgefallen. Ich nahm sie aber lange als unveränderlich hin, denn der Schrecken der brasilianischen Militärdiktatur überdeckte den traditionellen „Machismo“ des Landes. Erst in Köln kam ich mit dem Feminismus in Berührung. Der Kampf gegen den § 218 und der Frauenbuchladen waren zentrale Impulse, doch ich blieb noch distanziert. Nach langem Kampf um die Anerkennung meines brasilianischen Uni-Diploms konnte ich 1988 eine Fortbildung in systemischer Paar- und Familientherapie absolvieren. Anschließend lebte ich mit meiner Familie noch einmal fünf Jahre in Brasilien, das seit 1985 ein demokratisches Land war. In Recife/ Nordostbrasilien habe ich mit Frauen u.a. in den Favelas gearbeitet und die südamerikanische Frauenbewegung als stark und fortgeschritten kennengelernt.
Zurück in Köln schloss ich mich einer Gruppe von mehr als zwanzig lateinamerikanischen Frauen an, meist Exilantinnen, europaweit vernetzt unter dem Namen „Aqui nosostras“. Dann hatte ich das Glück, dass mich ein Mitarbeiter des Arbeitsamts mit agisra in Kontakt brachte, einem professionelles Frauenprojekt, das mich sofort begeisterte. Dort habe ich, mit Unterbrechungen, bis zu meiner Rente 2008 als Beraterin und Therapeutin gearbeitet, anschließend zwei Jahre im Vorstand und ehrenamtlich bis Mai 2021.
Doch die Arbeit mit den Klientinnen fehlt mir, auch wenn mir jetzt genügend Zeit für meine Töchter und Enkel bleibt, ein großes Glück. Denn ein völliger Rückzug ins Private ist nicht meine Sache. Inzwischen gilt mein Interesse auch der liberalen jüdischen Gemeinde, denn die jüdische Identität ist stets eines meiner Lebensthemen geblieben. Sorgen bereiten mir die Politik des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro, der Nahostkonflikt sowie der Rechtspopulismus in Deutschland. Doch die Hoffnung, dass wir etwas verändern können, gebe ich nicht auf. Ich werde immer ein politisch engagierter Mensch bleiben.
Autorin: Ida Schrage