Ich bin Shewa Sium und 1958 in Asmara in Eritrea geboren. Dort habe ich zusammen mit meinen Eltern und meinen sechs Geschwistern gelebt und die Schule bis zum Abitur besucht. Aufgrund des Unabhängigkeitskriegs zwischen Äthiopien und Eritrea bin ich 1979 alleine über den Sudan nach Deutschland geflüchtet. Ich musste fliehen, weil ich zuvor politisch aktiv war und die Situation in Eritrea für mich gefährlich wurde. Ein jüngerer und ein älterer Bruder von mir waren Freiheitskämpfer im Unabhängigkeitskrieg gegen Äthiopien. Beide habe ich während des Kriegs verloren. Im Mai 1979 bin ich mit dem Flugzeug aus Khartoum (Sudan) nach Köln gekommen. Zu dieser Zeit war es möglich, mit einem äthiopischen Pass ohne Visum nach Deutschland einzureisen. Damals habe ich mich dazu entschieden nach Deutschland zu kommen, da ich Kontakt mit einem Verwandten hatte, der in Deutschland studiert hatte und zu der Zeit bei der Deutschen Welle arbeitete.

© Sium Shewa

Nachdem ich mich nach meiner Ankunft einige Tage erholt hatte, unterstützte mich ein Anwalt dabei, in Deutschland Asyl zu beantragen, und ich wurde in einem Flüchtlingsheim in der Etzelstraße in Weidenpesch untergebracht. Das Flüchtlingsheim war anders als heutzutage. Wir hatten alle unseren eigenen Bereich, und das Heim war auch nur für Frauen und Familien. Ich und die anderen jungen Frauen verspürten große Verunsicherung bezüglich des Lebens in Deutschland.  Ich erinnere mich beispielsweise daran, dass wir keinen Schlüssel von unseren Zimmern besaßen und der Hausmeister so jederzeit in unsere Privatsphäre eindringen konnte. Eine Kollegin meines Verwandten, welche auch aus Äthiopien (Tigrai) kam, unterstütze mich darin einem Schlüssel für mein Zimmer zu bekommen, indem sie mit der Stadt Köln in Kontakt trat. Diese Frau klärte mich über das Leben in Deutschland als Frau auf, besonders zum Thema Frauen und Gesundheit. Sie begleitete mich zu der Untersuchung beim Frauenarzt und klärte mich über Verhütungsmittel und meine Selbstbestimmungsrechte auf. Sie war eine sehr große Unterstützung für mich, da das Thema Sexualität und alle damit verbundenen Themen in Eritrea große Tabuthemen waren und immer noch sind.

In dem Wohnheim, wo ich auch gewohnt habe, habe ich vier Monate lang einen Deutschkurs besucht. Daraufhin konnte ich bis zu meiner Asylanerkennung arbeiten gehen. Die Anerkennung habe ich nach ungefähr einem Jahr bekommen. Danach konnte ich einen Sprachkurs der Otto-Benecke-Stiftung besuchen und bei einem Studienkolleg in Köln meine Hochschulreife absolvieren. An der Universität zu Köln habe ich 1994 mein Dipl. Pädagogik Studium abgeschlossen. Während des Studiums habe ich mich weiterhin in Studenten- und Frauenorganisationen für die Unabhängigkeit Eritreas eingesetzt.

Während meiner Flucht im Sudan habe ich meinen Mann Ermias Debessai und den Vater meiner zwei Kinder kennengelernt. Er war Unabhängigkeitskriegskämpfer und hat die Organisation EPLF (Eritrean Peoples Liberation Front) im Ausland vertreten. Nachdem Eritrea 1991 unabhängig wurde, wurde mein Mann Botschafter für Eritrea in China. Nach meinem Studium haben wir dort einige Jahre zusammengelebt. In der Zeit habe ich auch die Möglichkeit gehabt, bei der Deutschen Schule in Peking zu arbeiten. Meine Tochter wurde dort eingeschult und ist zwei Jahre zur Schule gegangen. 1997 wurde mein Sohn geboren. Diese Zeit war sehr besonders, und wir hatten große Hoffnung bezüglich der Unabhängigkeit und des Friedens Eritreas. Jedoch wurde unsere Hoffnung Mitte 1997 zunichtegemacht, und mein Mann musste beruflich nach Eritrea. Dort wurde er unerwartet in Haft genommen. Er sitzt bis heute, ohne Gerichtsverhandlung und Kontakt zur Außenwelt, im Gefängnis in Eritrea. Wie auch viele andere Menschen, welche früher für die Unabhängigkeit und Freiheit Eritreas gekämpft haben. Das Land ist für viele Menschen zu einem großen Gefängnis geworden. Seit 24 Jahren konnte ich nicht meinen Mann und meine Kinder nicht ihren Vater besuchen, da Eritrea immer noch zu gefährlich für uns ist.

Als mein Mann ins Gefängnis kam, reiste ich mit meinen Kindern zurück nach Deutschland. Von einem Tag auf den Anderen war ich allein und musste mit der Situation zurechtkommen und war nicht nur für meine, sondern auch die Sicherheit meiner Kinder verantwortlich. Meine Tochter ging weiter zur Schule, studierte und ist nun Zahnärztin. Sie heiratete und hat 2020 eine Tochter bekommen. Mein Sohn studiert erfolgreich BWL.

Ich arbeite seit 2003 als Beraterin bei agisra e.V., Frauenberatungsstelle für Migrantinnen* und geflüchtete Frauen*. Die Arbeit bei agisra e.V. stärkt mich, da ich durch meine Biographie andere Frauen* unterstützen und empowern kann und mich weiterhin politisch für Menschen- und besonders Frauenrechte engagieren kann.

Autorin: Shewa Sium