Wie ist es möglich, dass die Frauenrechtlerin Anna Schneider völlig in Vergessenheit geraten ist? Es gibt noch nicht einmal ein einziges Foto von ihr. Liegt es möglicherweise daran, dass sie aus der Arbeiterklasse kam und nicht aus großbürgerlichen Verhältnissen?

Ohnehin existieren über Anna Schneider, die diesen Nachnamen erst durch Heirat erhielt, nur wenige Informationen. Abgesehen von ihrem Geburtsdatum, dem 12. Dezember 1846 und dem Geburtsort Köln ist über Familie, Kindheit und Schulausbildung nichts bekannt. Fest steht, dass sie 1873 den Sozialdemokraten Ernst Schneider heiratete, der vermutlich aus dem gleichen proletarischen Milieu stammte wie sie selbst.

© Proletarierverlag Weber Kellermann

Es dauerte noch Jahre, bis die Öffentlichkeit auf Anna Schneider aufmerksam wurde, obwohl sie sich wohl schon früh mit der Frauenfrage beschäftigte und die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen anprangerte. Das betraf zum einen das 1850 eingeführte preußische Vereins- und Versammlungsgesetz, das Frauen bis 1908 verbot, an politischen Versammlungen teilzunehmen. Doch als Sozialdemokratin fühlte sich Anna Schneider gleich doppelt diskriminiert: Bis 1890 war das Sozialistengesetz in Kraft, das allen SPD-Mitgliedern verbot, sich politisch zu betätigen. Danach aber begannen Frauen landesweit, eigene Organisationen für Arbeiterinnen zu gründen. 1891 wurden auf dem Erfurter SPD-Parteitag ihre Forderungen auch erstmals ins Programm aufgenommen. Gleichzeitig etablierte sich die Zeitschrift Die Gleichheit, die die Interessen der Arbeiterinnen thematisierte. Dabei ging es vielen Frauen keineswegs nur um die Verbesserung der sozialen Situation und günstigere Arbeitsbedingungen. Im Fokus ihrer Forderungen stand auch eine bessere Ausbildung, die neue Berufsfelder erschließen und damit zur Erleichterung der Lebensumstände beitragen sollten. Bildung war ebenfalls der Schlüssel zur Gleichberechtigung.

Das war auch das Anliegen von Anna Schneider – und so schritt sie zur Tat. Anfang 1892 setzte die 46-Jährige eine Anzeige in das Parteiorgan der SPD Kölner Arbeiterzeitung: „Mittwoch, der 13. Januar 1892. Abends 8 ½ im Lokale des Herrn Langenberg, Mühlenbach 4. Tagesordnung: Gründung eines Frauen- und Mädchen-Bildungsvereins.“

Das war natürlich ein heikles Unterfangen, verstieß es doch gegen das nach wie vor geltende Vereins- und Versammlungsgesetz. Doch das nahm die couragierte Anna Schneider gerne in Kauf, auch wenn sie äußerst vorsichtig vorgehen musste.

Die Einladung stieß auf breites Interesse. Es meldeten sich 35 Frauen und 20 Männer, und am Ende des Tages war die Gründung des Frauen- und Mädchen-Bildungsvereins beschlossene Sache. Es handelte sich um die erste Frauenorganisation der Kölner Arbeiterbewegung. Mit großer Mehrheit wurde Anna Schneider zur ersten Vorsitzenden gewählt. Daneben gab es eine zweite Vorsitzende, eine Schriftführerin sowie eine Kassiererin. Der Mitgliedsbeitrag betrug fünf Pfennig pro Woche.

Die Zahl der Vereinsmitglieder wuchs rasch an. Bald trafen sich jeden Mittwoch um 20.30 Uhr rund hundert Teilnehmende in der Gaststätte am Mühlenbach. Man war allerdings vorsichtig und bemühte sich, den politischen Charakter dieser Treffen nach Möglichkeit zu verschleiern. Doch da es sich um Veranstaltungen der SPD handelte, war das de facto kaum möglich.

Dem Wirt wurde das Ganze daher zu gefährlich. Er fürchtete, durch den Verstoß gegen das Vereins- und Versammlungsrecht selbst mit der Justiz in Konflikt zu geraten. Man benötigte daher ein anderes Lokal und fand in der Kämmergasse 18 eine neue Bleibe.

© Angela Jaitner

Zweck des Vereins war es unter anderem, „durch wissenschaftliche und praktische Vorträge über die den Frauen und Mädchen naheliegenden Fragen, durch gegenseitige Aufklärung und Erörterungen an den Vereinstagen, durch Weitergabe und Verbreitung geeigneter Schriften und Lektüre, durch vertraulichen und geselligen Verkehr in und außerhalb des Vereins“ bessere Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen zu erarbeiten. Zu den „geeigneten Schriften“ gehörte zum Beispiel das 1879 erschienene Werk Die Frau und der Sozialismus von August Bebel, der zu den Gründern der deutschen Sozialdemokratie gehörte. Seine Forderungen waren explizit politisch: Neben der gleichen sozialen Stellung von Arbeitern und Arbeiterinnen gehörte der gemeinsame Kampf gegen die Ausbeutung durch das Kapital. Für Bebel war die Frauenfrage untrennbar mit dem Klassenkampf verbunden. Entsprechend betonte auch Anna Schneider: „Wir verfolgen die gleichen Ziele wir unsere Männer – Verbesserung und Verkürzung der Arbeitszeit.“

Anna Schneider leitete ihren Verein mit viel Herzblut, organisierte Referentinnen, Diskussionsabende und hielt auch selbst Vorträge. Sie sprach sich für ein freies Vereins- und Versammlungsrecht aus und forderte das aktive und passive Frauenwahlrecht.

Trotz aller Vorsicht – die Versammlungen standen unter polizeilicher Beobachtung – kam es schon bald nach Vereinsgründung zum Eklat: Nachdem eine Referentin ein kritisches Referat über die Ehe gehalten hatte, musste die Debatte abgebrochen werden. Der zuständige Polizeikommissar erstattete Anzeige gegen die Vortragende und Anna Schneider. Vorerst hatte das keine Konsequenzen, doch als sich herausstellte, dass auf allen weiteren Treffen politische Inhalte diskutiert wurden, entschloss sich der Polizeipräsident persönlich, den Verein vorerst zu schließen. Das wollte Anna Schneider keinesfalls hinnehmen. Sie zog vor Gericht, erhielt eine Geldstrafe und legte mehrmals Revision ein. Vergebens. Im Mai 1894 wurde der Frauen- und Mädchen-Bildungsverein endgültig untersagt.

Seitdem verliert sich Anna Schneiders Spur im Dunkel der Geschichte, man kennt lediglich ihr Todesdatum. Sie starb als Witwe am 16. April 1935 im Kölner Bürgerhospital, einem renommierten Krankenhaus, das etwa dort stand, wo sich heute das Schnütgen Museum befindet. Erst der Kölner Frauengeschichtsverein hat die mutige Frauenrechtlerin dem Vergessen entrissen: Seit 2005 gibt es im feinen Kölner Rheinau-Hafen den „Anna-Schneider-Steig“. Eine späte Genugtuung.

Autorin: Karin Feuerstein-Prasser

Quellen

  • Angela Jaitner, Die Anfänge der sozialistischen Frauenbewegung am Beispiel des Kölner Frauen- und Mädchen-Bildungsvereins (1892-1894) in: Das andere Köln. Demokratische Traditionen seit der Französischen Revolution, Hg. Von Reinhold Billstein, Köln 1979 S. 156-169
  • Helga Bargel, Der Weg in die organisierte Frauenbewegung in: 10 Uhr pünktlich Gürzenich. Hundert Jahre bewegte Frauen in Köln. H. Kölner Frauengeschichtsverein, Münster 1995, S. 12-21
  • Anna Schneider Frauenwiki in www.frauengeschichtsverein.de