Ich bin als drittes Mädchen meiner Eltern geboren. Eigentlich wünschte sich meine Großmutter väterlicherseits endlich einen Jungen – dementsprechend war ich eine Enttäuschung.
Meine Eltern kamen beide aus Schönau, einem kleinen Dorf in Oberschlesien. Der Vater wurde 1943/1944 noch in den Krieg eingezogen. Die Mutter erlebte zweimal die Flucht und Vertreibung. Sie verlor durch den Krieg alle Männer ihrer Familie und erlitt sexuelle Gewalt.
1948 fand sich das Paar nach der Kriegsgefangenschaft meines Vaters wieder und heiratete. Sie kannten sich seit frühester Jugend.
Ich erlebte eine zufriedene und relativ unbeschwerte Kindheit. Meine Eltern hatten in Schnellenbach bei Ründeroth ein Haus gebaut. Wir lebten dort gemeinsam mit meiner Oma und Großtante. Die Großtante strahlte immer sehr viel Liebe und Wärme aus, das habe ich sehr genossen. Als Jugendliche wurde mir bewusst, welche Traumata der Krieg hinterlassen hatte. Denn meine Mutter bekam immer mehr psychische Probleme. Erst im Alter konnte sie ihre Bitterkeit überwinden.  

© Marianne Arndt

Als der TSV Ründeroth 1973 ein Sportzentrum baute, wurde die Schwimmabteilung dort mein zu Hause.  Im Schwimmsport konnte ich viel lernen, mich entfalten und Erfolge feiern. Unser Trainer hat mich sehr ermutigt und mir viel Verantwortung und Vertrauen geschenkt. Schon früh habe ich neben dem eigenen Training Kindern das Schwimmen beigebracht und die Jugendarbeit organisiert. Bereits mit 15 arbeitete ich an der Leitung von Trainingslagern mit. Gleichzeitig habe ich in Senioreneinrichtungen gearbeitet und wurde so bereits mit 15 Jahren mit dem Tod konfrontiert.  In Köln absolvierte ich das Fachabitur und anschließend ein Praktikum an einer Sonderschule für Körperbehinderte. Dabei stellte ich fest, wie schwer den Menschen mit Behinderungen damals das Leben gemacht wurde. Bereits in den 1970er Jahren setzten wir uns z.B. für Bordsteinabsenkungen an den Straßen ein – und noch immer existieren so viele Hürden.

Im Laufe der Klasse 12 wurden mir mein Berufswunsch und meine Berufung klar: ich wollte Theologie studieren. An meinem 18. Geburtstag bekam ich die Zusage für das Studium der praktischen Theologie in Mainz, und im Januar 1985 war ich Diplom-Religionspädagogin. Mein Ziel war: in der Kirche für und mit allen Menschen zu wirken, an einer vielfältigen, offenen Kirche, die nahe am Menschen ist.
Nach dem Abschluss des Studiums lebte ich ein halbes Jahr lang in einer Basisgemeinde im Staat Para am Amazonas und machte Gemeindeerfahrungen. Auf Reisen durch das Land sammelte ich wichtige Erfahrungen für mein Leben, aber auch für meine berufliche Entwicklung in der Kirche. Ich lernte beispielsweise die Theologie der Befreiung durch Leonardo Boff kennen und schätzen. Sie beeinflusst mein berufliches Handeln noch heute.
Wieder in Deutschland, fasste ich schnell wieder Fuß, beruflich wie auch privat. Ich heiratete und zog gemeinsam mit meinem Mann nach Botswana. Ich dachte damals, dort kommen so viel Kinder auf die Welt, warum nicht auch unser Kind. Tatsächlich habe ich dort unsere erste Tochter geboren. Dadurch wurde ich auch als „Frau anerkannt“, so das damalige Verständnis der Gesellschaft (heute hat sich diesbezüglich auch in Botswana viel verändert).

Neben der Erziehung unserer Tochter startete ich in Botswana ein kleines Frauenprojekt. Mit mehr als 12 Frauen bestellten wir einen Garten von 2 Hektar mit Spinat und Tomaten. Wir legten die Wasserleitung, bauten ein Haus, bauten Beete, die mit wenig Wasser viel Ertrag brachten, legten eine kleine Hühnerfarm mit 3X100 Legehennen an und eine kleine Bakery. Das Projekt wurde auch nach meiner Rückreise nach Deutschland noch weitere 7 Jahre betrieben und bot den Frauen und Kindern eine finanzielle Lebensgrundlage. Wir erlebten in dieser Zeit das Ende der Apartheid und die Freilassung von Nelson Mandela.
1991 kehrten wir zurück nach Deutschland. Mein beruflicher Weg führte ins rechtsrheinische Köln (Deutz, Stegerwaldsiedlung), wo wir im Bereich der Jugendarbeit intensiv an Vernetzungen zwischen Kirche und Jugendorganisationen arbeiteten.
Von 1997 bis 2003 beteiligte ich mich aktiv am Wanderkirchenasyl und später am Kirchenasyl. Nach 13 Jahren wurde ich auf Weisung des Bischofs und des Pfarrers nach Buchheim und Buchforst versetzt, später kam Mülheim dazu. Dort lagen meine Schwerpunkte bei der Caritasarbeit (Aufbau von zwei Lebensmittelausgabestellen und einer Kleiderstube) und der Jugendarbeit (Christliche Arbeiterjugend (CAJ) mit mehr als 150 Mitgliedern). Wir organisierten zwei große Malaktionen an den Unterführungen in Buchforst mit 550 bzw. 650 Teilnehmer*innen im Rahmen der 72 Stunden Aktion. Hinzu kamen drei Jugendcamps in Tansania und Bolivien.
Ich konnte dazu beitragen, dass das Jugendzentrum ‚Treffer‘ in Buchheim und ‚Area 51‘ in Buchforst verstetigt wurden. Auch ein Familienzentrum mit vielfältigen Aktivitäten bauten wir auf und entwickelten die Flüchtlingsarbeit.

Leider musste ich nach 13 Jahren auch dort wieder gehen. Der Grund liegt in den hierarchischen Machtverhältnissen in der katholischen Kirche. Unsere Berufsgruppe mit Familien müssen wechseln, die Pfarrer dürfen bleiben. Auch ein gewisser Machtmissbrauch.

Nun arbeite ich mit halber Stelle im evangelischen Krankenhaus Köln-Kalk und mit der anderen halben Stelle in den Kirchengemeinden Höhenberg und Vingst. Die Arbeit im Krankenhaus ist für mich von hoher Bedeutung. Hier geht es immer um existenzielle Not und auch darum, dass allen Menschen die gleiche Würde zuteilwird, auch denen, die am Rande stehen.

2019 habe ich mit Kolleg*innen einen offenen Brief an Kardinal Woelki geschrieben und mehr Möglichkeiten in unserem Beruf gefordert. Wir wollen unsere Kompetenzen in die Gemeinden einbringen. Ich bin in den Konflikt mit dem Erzbischof gegangen und habe Tätigkeiten durchgeführt, die Frauen, weil sie keine ‚Weihung‘ erlangen können, nicht erlaubt sind, z.B. die Segnung von Sterbenden und von Paaren – auch geschiedenen und gleichgeschlechtlichen -. Ich möchte unserer Kirche dadurch weitere Perspektiven eröffnen.

Zeitgleich zu dem offenen Brief kam die Bewegung Maria 2.0. in die Öffentlichkeit. Seither bin ich in dieser Bewegung aktiv, um den Machtmissbrauch, die sexualisierte Gewalt, aber auch falsche hierarchische Strukturen zu verändern. Mein Ziel und meine Hoffnung sind, dass die Kirche die Kirche der Menschen ist und nicht nur die der Bischöfe. Die Kirche soll ein Gesicht der Freiheit, der Vielfalt und der Nächstenliebe zeigen.
Ein weiteres Ziel ist eine veränderte Haltung gegenüber den Geflüchteten in unserer Gesellschaft, aber auch in unserer Kirche. Menschen, die ihre Heimat verlassen, haben in der Regel einen berechtigten Grund. Niemand verlässt gerne seine Heimat. Unser Ziel muss sein, sich für Recht und Gerechtigkeit in unserer Welt einzusetzen.  2020 haben wir einen Verein gegründet, ‚Mosaik Köln Mülheim e.V.‘, der sich für geflüchtete Menschen und Integration einsetzt. Ich bin Gründungsmitglied und Vorsitzende.
Mir ist wichtig, Position zu beziehen überall dort, wo Machtsysteme in Kirche und Gesellschaft Menschen entmachten. Ich möchte Menschen Mut machen, gemeinsam mit anderen gegen Ohnmachtssysteme aufzustehen.

© Marianne Arndt


In den letzten Jahren hat sich mein Lebenskreis etwas mehr geschlossen. Ich konnte meine Eltern eine Zeit begleiten, als sie alt und hilfsbedürftig wurden. Die letzten vier Jahre habe ich viel Zeit mit meiner Mutter verbracht und sie gepflegt. Sie wollte so gerne zu Hause sterben, sicher hängt das auch mit ihren Flucht- und Vertreibungserfahrungen in jungen Jahren zusammen. Für mich war beeindruckend, wie eine schwer traumatisierte Frau in den letzten Jahren ihres Lebens ihre Bitterkeit überwinden und in Frieden und Dankbarkeit sterben konnte.

Ja, wir müssen aufstehen, überall dort wo Macht zerstört, wo Macht zum Missbrauch genutzt wird.
So Gott will, möchte ich diese wichtigen Aufgaben auch noch einige Zeit fortführen und etwas Stachel im Fleisch unserer Kirche und Gesellschaft sein.

Heute bin ich dankbar für meine Familie, Freund*innen und Partner*innen im gemeinsamen Streiten um Recht und Gerechtigkeit.

Marianne Arndt