Die 1388 gegründete Universität Köln gehörte lange Zeit zu den wichtigsten Hochschulen des Deutschen Reiches. Doch nachdem die Franzosen das Rheinland besetzt hatten, wurde sie 1798 geschlossen und erst nach rund 120 Jahren wieder eröffnet. Inzwischen wurden auch Frauen zugelassen, und Jenny Gusyk war 1919 die erste Studentin, die sich hier immatrikulierte.
Erstaunlicherweise besaß Jenny die türkische Staatsbürgerschaft, obwohl sie am 19. Mai 1897 im heutigen Litauen geboren wurde, das damals zum russischen Zarenreich gehörte. Sie war das Kind einer jüdischen Familie und hatte noch drei Geschwister.
Als sich in ihrer Heimat die Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung häuften, beschlossen die Eltern ins Deutsche Reich zu emigrieren. Die Familie ließ sich in Gräfrath (heute Stadtteil von Solingen) nieder, wo der Vater eine alteingesessene Stahlwarenfabrik erwarb und mit Bestecken handelte. Um nicht als „Ostjude“ angefeindet zu werden, nahm der in Konstantinopel geborene Leon Gusyk 1913 die türkische Staatsangehörigkeit an, die nun auch für Jenny und ihre Geschwister galt.
Beide Schwestern besuchten das Lyzeum und beendeten die Schule mit der Mittleren Reife. Um im väterlichen Betrieb mitarbeiten zu können, absolvierte Jenny zunächst eine Ausbildung zur Kaufmannsgehilfin, ging danach im Sommer 1917 nach Köln und begann ein Studium an der Handelshochschule.
Dann geriet das Familienleben durch zwei schwere Schicksalsschläge aus den Fugen. Die Spanische Grippe raffte 1918 sowohl Jennys Mutter als auch ihren Bruder Paul dahin. Der plötzlich verwitwete Leon Gusyk beschloss, seine Gräfrather Firma aufzugeben und in Berlin noch einmal neu anzufangen. Damit bürdete er Jenny eine riesige Last auf: Bis er an der Spree Fuß gefasst hatte, sollte sich die junge Frau nicht nur um ihre jüngeren Geschwister kümmern, sondern auch für die „Abwicklung“ der Besteckfabrik sorgen.
Es bleibt ein Rätsel, wie Jenny diese schwierigen Aufgaben gemeistert hat. Gleichwohl hatte sie nach vier Semestern ihr kaufmännisches Diplom in der Tasche – und damit die Zugangsberechtigung zum Studium an der neu gegründeten Universität Köln.
Als erste Frau immatrikulierte sie sich 1919 für den Studiengang Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.Sie erhielt die Matrikelnummer 2. Das Studium machte ihr große Freude, und weil sie mit dem Sozialismus sympathisierte, schrieb sie ihre Diplomarbeit über den 1914 ermordeten französischen Kommunisten Jean Jaurès, der den Sozialismus nicht auf revolutionärem Weg, sondern durch Reformen herbeiführen wollte. Im Wintersemester 1920/21 beendete Jenny Gusyk ihr Studium zur Diplom-Kauffrau mit Auszeichnung. Allem Anschein nach hätte sie das Thema ihrer Examensarbeit gerne zu einer Doktorarbeit ausgebaut, doch die wurde als „zu kommunistisch durchdrungen“ abgelehnt.
Das war das Ende ihrer akademischen Laufbahn. Jenny Gusyk zog nun nach Berlin zu ihrem Vater und arbeitete als Buchhalterin. In dieser Zeit lernte sie ihren späteren Ehemann kennen, den Schneider Karl Stucke, ein Protestant. 1927 wurde ihr einziges Kind geboren.
Das Ehepaar teilte die gleichen sozialistischen Ideen. Karl Stucke schrieb für die kommunistische Parteizeitung „Die rote Fahne“. Das wurde nicht nur ihm zum Verhängnis. Gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Stucke wegen seines Engagements in „Schutzhaft“ genommen und schließlich ins KZ Sachsenhausen eingewiesen. Hier hat Jenny ihn noch einmal besucht und zum letzten Mal gesehen. Karl Stucke wurde dort 1940 ermordet.
Mit dem Tod ihres protestantischen Ehemanns verlor die Jüdin Jenny den Schutz, den ihr die sogenannte „Mischehe“ bislang geboten hatte. Sie musste untertauchen und versuchen, mit ihrem Sohn irgendwie zu überleben. Während es ihrer Schwester Rebekka 1942 gelang, in die USA zu emigrieren, entschied sich Jenny, in Deutschland zu bleiben. Vermutlich wollte sie ihren alten Vater nicht im Stich lassen. Als Leon Gusyk 1943 starb, war es für sie zu spät. Nach einer Denunziation wurde Jenny am 3. Juni 1943 verhaftet und ins Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße gebracht. Hier sah Hans Thomas Stucke seine Mutter zum letzten Mal. Ihm selbst gelang es dank der Unterstützung befreundeter Genossen, die NS-Zeit zu überleben und 1946 in die USA auszuwandern, wo er bei seiner Tante in New York Aufnahme fand. Hier starb er 2013.
Jenny wurde am 2. Januar 1944 in Auschwitz ermordet, ihr Bruder Max und seine Frau bereits 1943.
Für lange Zeit geriet Jenny Gusyk in Vergessenheit. Erst die Ausstellung „Ja, das Studium der Weiber ist schwer“, die 1995 an der Universität Köln gezeigt wurde, machte wieder auf die ehemalige Studentin aufmerksam. So wurde ihr schließlich eine späte Ehre zuteil. 2009 vergab die Gleichstellungsstelle der Universität – mit freudiger Zustimmung von Hans Thomas Gusyk – erstmals den „Jenny-Gusyk-Preis“ für Projekte zur Förderung von Chancengleichheit von Männern und Frauen.
Inzwischen werden gleich drei Preise im Bereich Gleichstellung ausgelobt: der mit 1000 € dotierte Jenny Gusyk Nachwuchspreis für eine herausragende wissenschaftliche Abschlussarbeit im Bereich Gender- und/oder Queer-Studies, der Jenny Gusyk Innovationspreis in Höhe von 3000 € für eine innovative Gleichstellungsmaßnahme im Bereich Geschlechtergerechtigkeit sowie der Jenny Gusyk Preis Familienbewusste Führung für eine Führungskraft, die aktiv Verbesserungsmöglichkeiten bei der Vereinbarung von Familien- bzw. Pflegearbeit und Beruf erwirkt hat. Dieser Preis ist mit 1000 € dotiert.
Autorin: Karin Feuerstein-Prasser (auf Basis des Beitrags von Irene Franken in der App ‚Geschichten jüdischen Frauenlebens in Köln“)
- Irene Franken, „Ja das Studium der Weiber ist schwer“. Studentinnen und Dozentinnen an der Kölner Universität bis 1933, Köln 1995 S. 33 ff. (auch online abrufbar)
- Wilhelm Rosenbaum, Jenny Gusyk. Jüdin, Türkin, Solingerin. Die Biografie der ersten Studentin an der Universität Köln, Solingen 2003 (auch online abrufbar)
- Ute Planert (Hrsg.), Alberts Töchter – Kölner Frauen zwischen Stadt, Universität und Republik (1914 – 1933), Köln 2019