„Welche bin ich? Eine, keine und hunderttausend! Du bist frei, wenn Du jeden Augenblick neu wirst…“ Luigi Pirandello

Natürlich bin ich Eine, die geboren wurde; Eine, die einen durchaus rosigen Lebensweg hätte beschreiten können; aber dann Eine wurde, die mit zweieinhalb Jahren im Winter 1944 zusammen mit Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tante aus Hinterpommern fliehen musste, während der Vater „im Krieg“ war; Eine, die fast zwei Jahre in dänischen Internierungslagern verbrachte; dann völlig besitzlos, aber behütet und glücklich mit den Eltern in Eutin (Schleswig-Holstein) wohnte, mit den Eltern nach Hamburg zog, dort das Abitur und eine Schauspielausbildung an der Hamburger Hochschule für Musik und darstellende Kunst machte; Eine, mit ersten Schauspielerfahrungen in Hamburg am Thalia Theater, Hamburger Schauspielhaus und Ernst Deutsch Theater; Eine, die 1969 Hans-Peter Fuhrmann heiratete, der ein Volontariat bei der Braunschweiger Zeitung absolvierte, mit ihm nach Braunschweig zog und die als Schauspielerin und Regieassistentin am Staatstheater Braunschweig  arbeitete, ihrem Ehemann 1971 nach Köln folgte und deren Ehe 1978 geschieden wurde; Eine, die das Glück hatte, 1971 sofort ans Schauspiel Köln engagiert zu werden und dort 37 Spielzeiten zum Ensemble gehörte und mit wunderbaren Kolleg*innen und außerordentlichen Regisseur*innen (Jürgen Flimm, George Tabori, Angelika Hurwicz …) arbeiten durfte und dazu eine gefragte Sprecherin bei WDR, Arte, Deutschlandfunk, Deutsche Welle, Lit. Cologne usw. wurde; Eine, die viele beglückende, selbsterarbeitete  Konzertlesungen mit dem Duo KontraSax (Christina Fuchs/Romy Herzberg) machen konnte; Eine, die nach der Pensionierung regelmäßig ans Grenzlandtheater Aachen engagiert wurde, den Theaterpreis der Stadt Aachen gewann, dort auch 2 Stücke inszenierte: von Max Frisch: (Biografie: Ein Spiel) und von Alan Ayckbourn: Bürgerwehr/ Neighbourhood Watch; Eine, die immer noch in der Kölner freien Theaterszene auf der Bühne steht und mit dem Kellertheater den Kölner Kurt-Hackenberg-Preis erhielt für politisches Theater; Eine, die Mitglied bei der GEDOK (Gesellschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnen und Kunstfreund*innen )ist und in diesem Rahmen in den letzten Jahren 3 interdisziplinäre Performances erarbeitet hat.          

Renate Fuhrmann
© Renate Fuhrmann

Eine, die die Chance hat, mit jeder neuen Schauspielrolle „Hunderttausend“ andere mögliche Personen und ihre Schicksale an und in sich selbst zu erfahren und so gelernt hat, die eigene Wichtigkeit zu relativieren; Eine, die glücklich und dankbar ist, eine Frau zu lieben und mit ihr verheiratet zu sein; und die Keine wurde, die vor der politischen Realität die Augen verschließt; Keine, die den heftigen und bitteren Auseinandersetzungen vor allem mit den Eltern und Lehrer*innen über Nazi-Deutschland aus dem Weg gegangen ist; Keine, die nicht an den großen Demonstrationen in den 1970ger und 1980ger Jahren teilgenommen hat: gegen den Vietnamkrieg, gegen den Nato-Doppelbeschluss, gegen die Atomkraftwerke …; Keine, die nicht besorgt in unsere politische Zukunft schaut; Eine, deren wohl intensivste Rolle die „Lotte“ in George Taboris Stück „Jubiläum“ war. Hier ein Text-Auszug:

Lotte telefoniert: „ … Ich bin in einer Telefonzelle am Dom, es schneit, draußen Karnevalsrummel, die Menge kommt und geht, Stadträte, Sanitätsräte, Richter, Hinrichter, Rentner, Zahnärzte, Rechtsanwälte, Linksliberale, Bischöfe, Masseure, Regisseure, Nutten, Junkies, alte Nazis, junge Nazis … die Tür klemmt. Die Tür der Zelle … ich habe schon alles versucht, gedrückt, gestoßen mit Ellbogen, Schultern, Hintern, Knien, sie geht nicht auf. Nein, das ist kein jüdischer Witz … Ja, es sind Leute draußen, eine Menge. Nein, die kümmern sich nicht. Ja, ich habe um Hilfe gerufen … außerdem steigt irgendwie Wasser nach oben. Ja, schlammiges, eisiges Wasser, wahrscheinlich der Rhein. Nein, ich kann es nicht erklären, ich vermute es sickert durch den Boden, ein Bruch in der Kanalisation vielleicht … und die Tür klemmt … Ja, es ist kalt … Ja, es steigt … Nein, niemand hilft … ich möchte eher nicht ertrinken, hier, am Dom, das Wasser steht mir schon am Nabel … Anna, hier ist Lotte, du, ich sterbe jetzt … es wird zu schwierig, die Tür klemmt, die Menge kommt und geht … zu schwierig … ich hätte dir gern noch adieu gesagt, aber du weißt ja, das Wasser steigt, es geht schon wieder los.“

Ich hoffe, Keine zu werden, die sich zur Ruhe setzt – aber Eine, die immer noch wach aus dem Fenster schaut und durch die Straßen geht und bewusst ihr Altern wahrnimmt und es auch annimmt und versucht, Haltung zu bewahren und weiß: Du bist frei, wenn Du jeden Augenblick neu wirst …

Autorin: Renate Fuhrmann