Schon als kleines Mädchen lag ich manchmal auf unserer Gartenmauer in Dresden, fühlte mich als Tiger und fauchte vorübergehende Passanten an. Tiger Akbar war mein Traumtier aus einem geliebten Kinderbuch: gefährlich, schön und versteckt in einem Dschungel lebend. 50 Jahre später habe ich im Zuge journalistischer Recherchen in den Mangrovenwäldern am Indischen Ozean nach Spuren dieser Spezies gesucht, aber nur Abdrücke ihrer Tatzen im Sand gefunden, immerhin, eine Tigerin musste nächtlich dort herumgestreift sein. Zuhause ist es eher bei einem Stubentiger geblieben.

© FrauenLeben e.V. Köln

Was hat frau nicht alles für Träume, wenn die Gegenwart in der Nachkriegszeit und den Fünfzigern in der DDR eher grau und eingeschränkt erlebt wird. Das unabhängig gewordene Indien, seine so fremden und zugleich anziehenden Menschen, die malerische Kultur und vielfältigen Sprachen, waren gerade fern genug, um sich damit zu beschäftigen. Also studierte ich Indologie an der Humboldt-Universität in Ostberlin, wusste aber, dass ich das Land ohne SED-Parteimitgliedschaft niemals besuchen dürfte. Vergebliche Anwerbungsversuche der Staatsicherheit brachten mich nach fünf Semestern dazu, das schöne Orchideenfach aufzugeben und in ein unpolitisches Gebiet, die Medizin, überzuwechseln. Während ich zur Vorbereitung des Studiums als Hilfsschwester im Krankenhaus Berlin-Köpenick arbeitete, verliebte ich mich in einen Westberliner Journalisten und übersiedelte nach Heirat und Geburt einer Tochter in die Nähe von Stuttgart.

Obwohl ich nun freien Zugang zu all den vorher verbotenen Büchern hatte, fühlte ich mich inmitten schwäbischer Hausfrauen wie in einem goldenen Käfig gefangen. Also begann ich während des Mittagsschlafs des Babys – es gab damals noch keine Kita – darüber zu schreiben, was ich kannte: Rezensionen über DDR-Literatur und den indischen Subkontinent. Dass die Artikel von der ehrwürdigen FAZ gedruckt wurden, ermutigte mich zu weiterem Schreiben, es wurde meine Passion und mein Beruf. Nach unserem Umzug nach Köln eröffneten sich mir mit dem WDR neue journalistische Möglichkeiten. Daneben begann ich Soziologie, Ethnologie und Film- und Fernsehwissenschaften zu studieren. 1971 konnte ich erstmals indischen Boden betreten und über die raue, überaus spannende Wirklichkeit Südasiens berichten. Nach mehreren Reportagereisen entstand daraus mein erstes Buch mit dem provozierenden Titel „700 Millionen ohne Zukunft? Faschismus oder Revolution in Indien und Bangladesch“. Wegen meiner kritischen Haltung zum Ausnahmezustand Indira Gandhis, der mit einer Einschränkung der Pressefreiheit verbunden war, wurde ich 1975 auf dem Flughafen in New Delhi offiziell ausgewiesen. Damit hatte ich meine Spezialisierung verloren und konnte erst viele Jahre später wieder in das Land reisen.

Nach der Scheidung 1972 musste ich meine Familie mit freier journalistischer Arbeit für Zeitungen, Zeitschriften (z. B. DIE ZEIT, Merkur), mit Rundfunkfeatures und Dokumentarfilmen für den WDR, NDR, HR, SWF und anderen Sendern sowie als Autorin von Sachbüchern ernähren. Thematisch berichtete ich nun allgemein über die Dritte Welt, Ausländer- und Asylpolitik, Arbeits- und Sozialpolitik, Projekte und Ideen der Frauenbewegung, Oral History-Forschung über Nachkriegsgeschichte, aber auch über die sog. Neuen Technologien, die Anfänge der Digitalisierung. Nach meiner Promotion 1987 übernahm ich Lehraufträge und Seminare an der VHS, der Kölner Fachhochschule und der Universität GHS Essen und beteiligte mich an einer Forschungsarbeit über sozialverträgliche Technikgestaltung im Rahmen eines Projektes „Mensch und Technik“ des Landes NRW.

© privat

1989 wechselte ich die Seiten: von der berichtenden zu einer politisch mitwirkenden Tätigkeit, d. h. von einer äußerst prekären wirtschaftlichen Situation in ein Angestelltenverhältnis mit besserer Alterssicherung. Ich bewarb mich als wissenschaftliche Referentin der jungen Grünen Bundestagsfraktion und arbeitete von 1992-2000 als Referatsleiterin für Arbeits-, Sozial-, Gesundheits-, Jugend-, Frauen- und Familienpolitik in der Hessischen Landesvertretung in Bonn, dem Scharnier zwischen der rot-grünen Landesregierung, dem Bundesrat und dem Bundestag. Nachdem die CDU in Hessen an die Macht gekommen war und der Regierungsumzug nach Berlin bevorstand, bot man mir nun als Soziologin an, im Sozialministerium in Wiesbaden den offiziellen Zuwanderungsbericht des Landes Hessen zu konzipieren und mithilfe verschiedener wissenschaftlicher Institute durchzuführen – eine überaus spannende und verantwortliche Tätigkeit, bei der mir maximaler politischer Spielraum eingeräumt wurde. Danach arbeitete ich wieder als freie Journalistin, reiste nach Südasien, schrieb Sendungen, Artikel und Bücher.

Mein persönlicher Werdegang wurde entscheidend durch die aufkommende Frauenbewegung beeinflusst. Bereits als Ehefrau und Mutter von zwei Töchtern wurde mir durch die Lektüre der Bücher „Der Weiblichkeitswahn“ der amerikanischen Frauenrechtlerin Betty Friedan, Simone de Beauvoirs Abhandlung „Das andere Geschlecht“, Kate Millets „Sexual Politics“ und auch durch die italienische Schrift „Wie weibliche Freiheit entsteht“ bewusst, dass das Unbehagen an meiner Lebenssituation kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. Die Feministinnen mit ihrem Slogan „Das Private ist politisch“ artikulierten die Unterdrückung der Frauen fantasievoll und überzeugend („Die Arbeit am erwachsenen Mann ist einzustellen!“), da wollte ich dabei sein. Ich nahm an den Demos der „Kölner Frauenbefreiungsaktion“ teil, renovierte das Frauenzentrum in der Eifelstraße, beteiligte mich an heißen Diskussionen, entwarf in Arbeitsgruppen Utopien für eine gerechtere Zukunft, feierte rauschende Feste (das 1. Frauenfest 1976 in der Wolkenburg mit Tausenden Frauen ohne Männer) – und verliebte mich in die Gründerin des Frauenbuchladens. „Gemeinsam sind wir stark“ – es herrschten Aufbruchstimmung und Lebenslust, aber es gab auch Rückschläge und Ablehnung als lesbische Mutter.

Allerdings war ich keine radikale Aktivistin, sondern Berichterstatterin und Analystin. Mit Maria Mies, Carola Möller und anderen Frauen gaben wir die lange Zeit führende Zeitschrift der autonomen Frauenbewegung, die „Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis“, im Kölner Eigenverlag heraus. Mein wichtigster Beitrag war jedoch die Entdeckung der von ihrer Partei, der SPD, vergessenen Mutter des Gleichberechtigungsartikels, Elisabeth Selbert. Nach einer Rundfunksendung und einem Film über sie bat mich die alte Dame, ihre Biografie zu schreiben. Mithilfe von Waschkörben voller Eingaben an den Parlamentarischen Rat, die sie organisiert hatte, und der Drohung, andernfalls das Grundgesetz in Gänze abzulehnen, setzte sie die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ durch und damit das patriarchale Familienrecht außer Kraft. Hier hat eine Frau tatsächlich Geschichte gemacht. Dokumentiert habe ich dies 1990 in meiner Dissertation „Das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz“.

In letzter Zeit habe ich mich mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigt. Entstanden sind daraus die Dokumentarfilme „Erschossen vom Vater – ein Familiendrama 1945“ (MDR 2015) und „Umstürzende Neuerungen. Eine sächsische Industrie- und Familiengeschichte“ (2016). Gegenwärtig arbeite ich an einem Buch über das Leben meiner Mutter in fünf verschiedenen politischen Systemen mit dem Arbeitstitel: „Ein wildes Trotzdem“.

Zusammen mit zwei meiner vier Enkel haben wir ein Kinderbuch – nicht über Tiger, sondern Drachen und Saurier – geschrieben und gemalt. Heute werde ich nur noch in Bildern meiner Freundin als Tiger porträtiert.

Autorin: Barbara Böttger