In ihren Werken darf gelacht und gedacht werden.

Wo sind Sie geboren?

»In Bruchsal, zwischen Heidelberg und Karlsruhe gelegen. Mit vierzehn habe ich zum ersten Mal versucht, von dort wegzukommen. Indem ich begonnen habe, hochdeutsch zu sprechen.«

Studium?

»Nach dem Abitur bin ich zuerst mit der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste e. V. nach Israel, wo ich 1988–1990 in Haifa in einem Altenheim gearbeitet habe. Im Anschluss habe ich in Hildesheim Kulturpädagogik studiert (Literatur, Musik und Philosophie, 1990–1996) und eine Gesangsausbildung absolviert. Gerne hätte ich aus der Musik meinen Beruf gemacht. Mit zwei weiteren Studentinnen habe ich ein a-cappella-Frauenterzett gegründet, Les femmes fatales. Mit unseren beiden abendfüllenden Programmen, ›The clit club‹ und ›Keuschheit macht schön‹ gastierten wir in jeder drittklassigen Kleinstkunstbühne zwischen Frankfurt am Main und Rostock, Bielefeld und Braunschweig. Immer, wenn ich vor einer Lesung Respekt habe, sage ich mir, komm, du hast dich beim Tummelplatz der Lüste 1996 in Hannover vor 3000 Leuten ausgezogen, – dann schaffst du das jetzt auch!«

Sie sind dann aber nicht bei der Musik geblieben?

»Nach dem Studium war Schluss mit lesbisch-feministischem Musikkabarett, seitdem singe ich in Chören für alte Musik. Meine Diplomarbeit Schreiben als Lust. Ginka Steinwachs und die écriture féminine (Betreuer: Hanns-Josef Ortheil) führte mich zur Allgemeinen Literaturwissenschaft, in der ich dann an der Universität Siegen promoviert worden bin, von Wolfgang Popp in seinem damaligen Forschungsschwerpunkt Homosexualität und Literatur. Als junge Lesbe fand ich es empörend, nirgendwo in der offiziellen deutschsprachigen Literaturgeschichte vorzukommen, obwohl mein Gaydar etwa bei Annette von Droste-Hülshoff stark anschlug. Also musste ich beginnen, selbst diese Forschungslücke füllen: »Als wenn du mein Geliebter wärest.« Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750-1850 (Stuttgart: Metzler, 2003) lautet der Titel meiner Dissertation. Fast alle meine späteren Bücher leiten sich aus diesem Werk ab. Mein zweites, rein historisches Buch etwa habe ich aus dieser literaturwissenschaftlichen Arbeit ausgekoppelt, die Biographie der letzten Frau, die in Europa wegen der so genannten Unzucht mit anderen Frauen hingerichtet wurde: In Männerkleidern. Das verwegene Leben der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel, hingerichtet 1721 (Köln: Böhlau, 2004; durchgesehen und mit neu aufgefunden Quellen ergänzt Berlin: Insel, 2021).«

Wollten Sie immer Schriftstellerin werden?

»Erst muss man ja was anderes können. Nachdem ich schon nicht Sängerin geworden war, wollte ich eigentlich Professorin werden. Aber aus Lehraufträgen und Gastdozenturen in Hildesheim und Köln ergab sich nichts und auch nicht aus meinem Jahr am Swedish Institute for Advanced Studies in Uppsala (2003–2004). Währenddessen habe ich immer weitergeschrieben und bin also fast aus Versehen Schriftstellerin geworden. Der nächste Stoff, den ich aus meiner Dissertation hatte auskoppeln müssen, war die Doppelbiographie eines Frauenpaars an der Schwelle zur lesbischen Identität der Moderne, Geschichte einer Liebe. Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens (Berlin: Insel, 2010). Ihre englische Zeitgenossin Anne Lister hat so staunenswert offen über ihre zahlreichen Affären mit anderen Frauen geschrieben, dass ich über sie Eine erotische Biographie schreiben konnte (Berlin: Matthes und Seitz, 2017). Dieses Buch bildet zugleich den Auftakt zu einer Trilogie über biographisches Schreiben, die ich mit dem Werkstattbericht oder ›Making-of Anne Lister‹ weitgerführt habe, Zeitreisen. Vier Frauen, zwei Jahrhunderte, ein Weg (2018) mit der essayistischen Poetik der Biographie (MSB 2019) abgeschlossen habe. Der Dreisprung Biographie – Reflexion – Theorie versucht, klassisches biographisches Schreiben zu dechiffrieren, indem er (auch) dessen essentielle Frauenfeindlichkeit offenlegt.«

Einen Roman haben Sie auch geschrieben.

»Ja, allerdings trenne ich selbst nicht zwischen Sachbüchern und Romanen, sondern nur zwischen guten und schlechten Büchern. Ähnlich wie meine Biographien beschäftigt sich auch mein Roman Rosenstengel. Ein Manuskript aus dem Umfeld Ludwigs II. (2015) mit dem Phantom Authentizität. Er verwebt zwei historische Persönlichkeiten miteinander – Catharina Linck alias Anastasius Rosenstengel und Ludwig II. von Bayern –, die ihr Leben buchstäblich erfunden haben. Eingebettet in absurde – mit historischem Abstand lustige – wissenschaftliche Diskurse über die ›Krankheiten‹ Homosexualität oder Frau-Sein.«

Portrait Angela Steidele
© Heike Steinweg photography

Was zeichnet Ihr Werk Ihrer Meinung nach aus?

»Ich versuche, Kunst und Wissenschaft nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern als zwar unterschiedliche, aber nicht gegensätzliche Formen des Erkenntnisgewinns, und beider Stärken für mein Werk fruchtbringend zu nutzen. Möchte wissenschaftlich seriös forschen, aber ästhetisch denken und literarisch schreiben, zum Zwecke heiterer Erkenntnis. Nebenher betreibe ich – im Foucault’schen Sinne – eine ›Archäologie‹ der weiblichen Homosexualität im deutschsprachigen Raum und versuche, die traditionell heteronormative Geschichtsschreibung als die Ideologie zu entlarven, die sie immer war: patriarchales Wunschdenken. Die Lebenswirklichkeit war immer viel vielfältiger und natürlich viel stärker auch von Frauen geprägt, als üblicherweise vermittelt wird. Und auch die Frauen in der Vergangenheit waren vielfältiger als gedacht.«

Welche Hindernisse sind Ihnen begegnet?

»Ich habe ganz klar von den Kämpfen profitiert, die meine Muttergeneration in den 1970er Jahren ausgefochten hat. Als ich rauskam, als Lesbe wie als Schriftstellerin, klangen die übelsten Vorurteile schon ab und es wurde, im Gegenteil, sogar sexy, etwa mich und meine Bücher zu fördern. Ich habe sehr vielen Einrichtungen zu danken, die mein Werk unterstützt oder geehrt haben. Ein Dieter-Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln ermöglicht mir gerade die Arbeit an meinem zweiten Roman.«

Bezeichnen Sie sich als Feministin?

»Die große Silvia Bovenschen hielt Feminismus für eine Frage der Intelligenz. Dem ist nichts hinzuzufügen.«

Und warum Köln?

»Als ich 1997 unsicher war, ob ich nach Köln ziehen soll, schlenderte ich in St. Aposteln hinein. Dort stehen herrlich skurrile, farbig gefasste Holzskulpturen der Nothelfer:innen. Als ich Grete mit dem Wurm sah, fiel meine Entscheidung für Köln: Die Heilige Margaretha hält eine Feder in der Hand und geht heiter lächelnd mit ihrem Drachen an der Kette Gassi! Ich zwinkere ihr jedes Mal zu, wenn ich am Neumarkt bin, so von Schriftstellerin zu Schriftstellerin. Wir werden auch noch unsere Drachen an die Kette kriegen.«

Angela Steidele im Gespräch mit sich selbst