Was hat mich, die Kielerin, eigentlich hierher verschlagen, nach Zülpich in die Voreifel? Ganz einfach – das Nachbardorf heißt Lövenich. Hier entstand Ende der siebziger Jahre eines der ersten Frauenferienhäuser. Kurz nach dessen Eröffnung fuhr ich mit einer Frauengruppe aus Düsseldorf hin und war begeistert: Ein Ort für Frauen, von Frauen geleitet!
Kurz darauf brach ich mit dem Rucksack auf zu einer zweijährigen Weltreise. Oft habe ich an dieses Haus gedacht, wo frau durch das Tor in eine andere Welt tritt. Sechs Jahre später ging ich, 40 Jahre alt und weitgereist, als Teamfrau durch Haus und Hof dieses Frauenbildungshauses (FBH).

Marie Sichtermann
© Marie Sichtermann


Der Weg dahin war kein gerader. Am 16. September 1944 kam ich in Erfurt in einer Bombennacht zur Welt. Nach wenigen Wochen war ich auf der Flucht nach Kiel, der Heimat meiner Mutter. Ich habe Angst, Hunger und Kälte erlebt und wollte daher später mal einen guten Beruf ausüben, der Geld einbringt. Es sollte anders kommen. Eine eigene Familie mit Kindern war nie mein Wunsch. Meine Eltern ließen sich scheiden, ich mogelte mich durch in der Schule. Für Medizin war mein Abiturzeugnis zu schlecht, für Jura reichte es.
1976 war es, als mich die Frauenbewegung mit voller Wucht traf. Ich war Verwaltungsrichterin in Düsseldorf und merkte täglich, wie unpassend meine Erscheinung in dieser Umgebung war. Mit hennarotem Haar und bunten Klamotten war ich sieben Jahre lang durch die Uni Bochum geschlappt, als Studentin, Referendarin, Assistentin, Doktorandin. Es gab kaum 10 % Frauen in diesem Fach. Ich hatte zwei ordentliche Examen und eine Promotion hingelegt, mit den Kollegen von der Uni in der Kneipe Doppelkopf gespielt und an der Theke über Fußball geredet. Gediegene Kleidung war hier kein Thema. Anderes sehr wohl: „MeToo“ gab es in der präfeministischen Zeit Anfang der siebziger Jahre auch bei mir. Als mein Doktorvater meine Arbeit gelesen und gelobt hatte, sprach er die klassischen Worte: „Wenn du mit mir ins Bett gehst, kriegst du Summa.“ „Und wenn nicht? Magna.“ Das musste dann eben reichen. Durchschaut hatte ich schon vorher, wie Frauen aus der Wissenschaft ferngehalten werden.
Wir gründeten ein Frauenzentrum und bald auch ein Frauenhaus. Ich schrieb zum ersten Mal eine Satzung für einen Frauenhausverein. Wir hatten kaum Erfahrung, aber wir hatten eine Illusion: Dass die Frauen, die dort Zuflucht suchten, Wohngemeinschaften gründen, mit uns das Patriarchat auseinandernehmen, gegen Diskriminierung und für die Befreiung aller Frauen kämpfen würden. So lernte ich, wie wichtig Illusionen sind. Woher hätten wir sonst die Kraft genommen?

Fast jeden Abend sauste ich mit dem Rad zu einer Frauengruppe, ‚Frau und Gesellschaft‘, Tarot, Trancen, Vorbereitung einer Demo, Plenum, Anti-AKW. Als wir im September 1977 zur großen Demo nach Kalkar fuhren, zitterte ich vor Angst, denn mein eigenes Gericht hatte diese Demo verboten. Ich kam nochmal davon, die Polizei hielt sich zurück. Alle, die dort waren, werden den hellen Vollmond erinnern, in dessen Licht 40.000 Menschen die Wiese in Kalkar verließen. Und ich war am Scheideweg. Staatsdienst oder Frauenbewegung?

Von Anfang an hat mich die Frauenbewegung beschenkt. Als Juristin war ich hier eine Exotin. Einmal fragte mich eine Frau: „Macht dir dein Beruf Freude?“ Ich war total verblüfft. Wann hatte es zuletzt Freude gegeben in meinem Leben? Die Frauengruppen machten mir Freude, ich lachte und tanzte, ging mit Frauen aus, genoss das Leben. Freude war das Geschenk, für das ich mich nun bedanken wollte mit einer lebenslangen Hingabe an die Frauenbewegung. So ist es dann auch gekommen. Ich glaubte fest daran, dass mich die Frauenbewegung durchs Leben tragen würde – und das hat sie auch. Die Projekte, an denen ich beteiligt war und bin, haben mir vieles, und eben auch eine selbständige Berufstätigkeit ermöglicht, die mir bis zum Schluss Freude gemacht hat.
Von 1985 bis 90 war ich Teamfrau im Frauenbildungshaus Zülpich (FBH). In diese Zeit fielen zwei Bauprojekte und zwei Ausbildungen für Heilpraktikerinnen. Ich lernte hier alles, was ich später als Beraterin von Frauenunternehmungen brauchte. Dieser Arbeitsplatz brachte außerdem viele Kontakte ein, in erster Linie jedoch zu Brigitte Siegel, die dort schon arbeitete, als ich dazu kam. Als Industriekaufrau und Juristin konnten wir einander viel beibringen. Außerdem verliebten wir uns und beschlossen, ihr kleines Projektberatungsunternehmen gemeinsam weiterzuführen und uns auf Frauen zu spezialisieren. Gemeinsam mit meiner Schwester Barbara schrieben wir „Den Laden schmeißen -ein Handbuch für Frauen, die sich selbständig machen wollen“. Das Buch hatte zunächst im Fischerverlag viele Auflagen, später auch beim Verlag Frauenoffensive. 1990 verließ ich das Frauenbildungshaus, und wir machten uns selbständig mit „Geld & Rosen, Unternehmensberatung für Frauen und soziale Einrichtungen“.
Das Buch hatte uns bekannt gemacht und brachte uns Einladungen zu Seminaren und Vorträgen ein. Später schrieb ich zu meinem Schwerpunkt, der Selbständigkeit in Gesundheitsberufen, das Buch: „Heilkunde, Therapie und Selbständigkeit“, Verlag Frauenoffensive. Eine Auswahl meiner Vorträge zu feministischen Themen habe ich in der Sammlung: „Der zäheste Fisch seit es Fahrräder gibt“ im Ulrike Helmer Verlag veröffentlicht. Wir reisten von unserem Büro in der Voreifel in alle Teile Deutschlands und nach Österreich. Zeitgleich engagierte ich mich jahrelang für die grünennahe ‚FrauenAnstiftung‘ und war in deren Auftrag in Polen und Kasachstan.

Für unsere frauenpolitische Arbeit wurden Brigitte Siegel und ich mit dem Margaretha-Linnery-Preis ausgezeichnet, verliehen vom Arbeitskreis Frauen im Kreis Euskirchen. 2018 schlossen wir das Büro, da war ich 75 Jahre alt.

Marie Sichtermann
© Marie Sichtermann

Doch es gibt weiter viel zu tun. Im Jahr 2004 hatte Brigitte die Idee, einen Verein zu gründen, mit dem wir uns den Belangen alternder und kranker Frauen und Lesben widmen wollten: Die Fraueninitiative04 e.V. Wir mischen uns ein in frauenpolitische Debatten und organisieren Tagungen zu unseren Themen – bisher sind es 11 Tagungen in 20 Jahren – und wir machen weiter.

Und alles kam nochmal zusammen in der Flutkatastrophe im Sommer 2021:
Jede Hilfe für mein geflutetes Haus kam durch Frauen, die mich durch meine feministischen Umtriebe kannten. Brigitte Siegel hätte ihren Beistand fast mit dem Leben bezahlt, als sie mit ihrem Wagen in eine Flutwelle geriet. Brigitte W., einst Handwerkerin im FBH Zülpich, war als erste da und fegte die Abflüsse frei. Schnell kamen viele Frauen herbei und schippten Schlamm und Unrat aus den Schuppen, häuften Sperrmüllberge auf, brachten mir Essen und standen mir bei. Es gab so viel Arbeit und so viele Helferinnen! Auch die Familie im Dorf, die mich für ein halbes Jahr aufnahm, fand ich durch Freundinnen, ebenso den Handwerker, der mein Haus wieder bewohnbar machte. Meine Lebensgefährtin Martina richtete mir in der alten Werkstatt einen Arbeitsplatz ein, und von der Frau, die dreimal aus Köln kam und mir zu mobilem WLan verhalf, hatte ich schon im FBH das Tanzen gelernt. Freundinnen aus der Ferne beschenkten mich liebevoll und großzügig. Ja, die Frauenbewegung hat mich getragen – und ich sie.

Dr. jur. Marie Sichtermann