Hertha Kraus wurde als älteres von zwei Kindern in Prag, damals Österreich-Ungarn, geboren. Die Familie zog bald nach Frankfurt am Main um, wo der Vater, ein Geograph, als Professor an der Handelshochschule tätig wurde. Hertha Kraus machte dort ihr Abitur und studierte zuerst Wirtschaftswissenschaften und später Sozialwissenschaften. 1919 promovierte sie zum Dr. rer. pol. zu dem Thema „Über Aufgaben und Wege einer Jugendfürsorgestatistik“. Noch während des Studiums trat sie aus der israelitischen Gemeinde aus und schloss sich den Quäkern an. Sie nahm in Berlin eine Stelle in der Kinderfürsorge der Quäker an und ließ sich von dem Gründer der ersten Nachbarschaftsheime, Friedrich Siegmund-Schultze, von dem Konzept der „Hilfe zur Selbsthilfe“ inspirieren.
1923 bot der damalige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, der jungen Wissenschaftlerin eine Stelle als Stadtdirektorin und Leiterin des Wohlfahrtsamtes an, auch gegen den Protest einer Kölner Zeitung, die die Berufung einer „so jungen, ausländischen, nicht katholischen Person für ganz unangebracht“ hielt. Nach heutigen Hierarchien wäre sie Amtsleiterin gewesen, sie war Teil des Wohlfahrtsdezernats mit mehreren gleichrangigen Abteilungen.
Hertha Kraus begann in Köln mit der Neugestaltung des Sozialwesens. In Riehl ließ sie aus Kasernen eine Anlage mit Wohnstift, Pflegeheimen und Versorgungsbereich für Personen mit körperlichen und psychischen Einschränkungen errichten. Die Riehler Heimstätten waren zu jener Zeit die größte Wohlfahrtseinrichtung im Deutschen Reich und wurden als Vorzeigeprojekt häufig besichtigt. Kraus unterrichtete an der Wohlfahrtsschule Köln und unterstützte ein Quäker-Hilfswerk für erwerbslose junge Mädchen. Sie war Mitglied der SPD, Mitglied im Hauptausschuss des Vereins für öffentliche und private Wohlfahrtspflege sowie bei der Arbeiterwohlfahrt.
Hertha Kraus war auch als Frauenrechtlerin engagiert, unter anderem als eine der Vorstandsfrauen des Stadtverbandes der Kölner Frauenvereine. In diesem Kontext war sie an der Gründung der GOA beteiligt, Gaststätten ohne Alkohol, mit fast 60 Frauenarbeitsplätzen.
Schon im Frühjahr 1933 tauchte die als von den Rassentheoretikern weiterhin als Jüdin definierte Frau sowie politisch unliebsame Sozialdemokratin unter und emigrierte kurz danach mit ihrer Lebensgefährtin, Gertrud Schulz, und ihren Eltern in die USA. In Pittsburgh, Pennsylvania fand sie bald eine Stelle als Dozentin am Institut of Technology. 1936 wurde sie Professorin für Sozialökonomie am anerkannten Quäker Frauencollege in Bryn Mawr in Philadelphia. Sie war Mitglied der National Association of Social Work und nahm weitere Lehraufträge an, unter anderem an der Columbia-University in New York. Sie engagierte sich auch im Rahmen der American Society of Friends (Dachverband der nordamerikanischen Quäker) in der Flüchtlings- und Auslandshilfe. So konnte sie im Exil neben ihrer akademischen Karriere anderen Verfolgten wie Marie Jucharz und dem Kölner Journalisten und Sozialdemokraten Sollmann helfen. 1939 nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an.
1946 kam sie auf Bitten Adenauers zum ersten Mal nach dem Krieg in das zerstörte Deutschland und auch Köln zurück, um sich an der Redemokratisierung (Re-education) und am Wiederaufbau zu beteiligen. Sie behielt allerdings ihren Wohnsitz in den USA. 1949 beriet sie den Hohen Kommissar der amerikanischen Militärregierung sowie General Clay. Sie nahm auch wieder eine zeitweilige Lehrtätigkeit auf. In Fort- und Ausbildungskursen vermittelte sie die amerikanische Methode des „social case work“ und veröffentlichte 1949 das Fachbuch „Von Mensch zu Mensch, Casework als soziale Aufgabe“, und 1950 „Casework in den USA. Theorie und Praxis der Einzelhilfe“. Beide Publikationen wurden Standardwerke der Sozialen Arbeit. Zudem begleitete sie die Gründung neuer Nachbarschaftsheime und die Reorganisation der Arbeiterwohlfahrt. Sie regte die Konstituierung des Deutschen Landesausschuss der Internationalen Konferenz für Sozialarbeit an sowie deren internationale Vernetzung.
1963 wurde sie erneut als Delegierte des American Friends Service Commitee nach Deutschland gerufen, um eine Friedensmission zwischen Walter Ulbricht und Willy Brandt zu begleiten. Ihrer Vermittlungskunst ist zu verdanken, dass die DDR ein Kontaktbüro im Westen eröffnete.
Hertha Kraus starb nach schweren Krankheitsjahren am 16. Mai 1968 in ihrem Haus in Haverford. Auf dem dortigen Quäkerfriedhof wurde sie in dem gemeinsamen Grab mit ihrer bereits verstorbenen Lebensgefährtin beigesetzt.
Hertha Kraus war eine einflussreiche Frau für Köln, für Deutschland und für die USA. In Köln hat sie zwischen 1923 und 1933 die Grundlagen für eine moderne Sozialverwaltung gelegt, die Arbeitslosenfürsorge professionalisiert, die Riehler Heimstätten errichtet und dabei immer auch die Frauen im Blick behalten. Sie war eine Pionierin für das Sozialwesen in Deutschland und in den USA. Nach dem Ende der NS-Diktatur mit ihrem verbrecherischen Rassenwahn hat sie dazu beigetragen, dass Menschlichkeit, Empathie und Respekt wieder in der Sozialen Arbeit verankert wurden. Auch auf politischer Ebene hat sie die Verständigung der Länder untereinander befördert. In Köln Riehl ist die Hertha-Kraus-Straße nach ihr benannt. Hertha Kraus ist seit 1995 eine der 18 Frauenfiguren am Ratsturm. Die TH Köln vergibt seit 2010 den Hertha-Kraus-Preis für herausragende Abschlussarbeiten im Bereich Management und Organisation der Sozialen Arbeit.
Autorin: Maria Beckermann
- Nyassi-Fäuster, Ulrike, Hertha Kraus 1897-1968, in: „10 Uhr pünktlich Gürzenich – Hundert Jahre bewegte Frauen in Köln – zur Geschichte der Organisationen und Vereine“, Münster 1995, Seiten 226 bis 229.
- Irene Franken, Frauen in Köln. 1. Auflage 2008, Seite 33, Seite 105, Seite 188, Seite 225.
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