Johanna Elberskirchen war leidenschaftliche Feministin, umstrittene Sozialdemokratin und außergewöhnliche Vorkämpferin für die Rechte von Lesben und Schwulen. Eine Tochter aus ‚gutem Hause‘ war sie nicht, doch diese strukturelle Hürde ihrer Klassenherkunft ermutigte sie nur, darüber zu springen: Bildung, Lohnarbeit und sogar ein Studium in der Schweiz setzte sie für sich durch. Als Publizistin, Rednerin und Aktivistin wurde ihre schärfste Waffe das Wort. Beim allerersten Frauentag 1911 gehörte sie zu den Vortragenden in den heutigen Kölner Bezirken Mülheim und Dünnwald. Sie ist auch bekannt unter ihren Pseudonymen „Hans Carolan“, „J. Carolan“, „Jeann Elberskircher“ und „Elberskircher“.
Johanna (Carolina) Elberskirchen, geboren am 11. April 1864 in Bonn, wuchs in einer Kaufmannsfamilie auf, arbeitete im Geschäft ihrer Eltern in der Bonner Innenstadt mit und war teilweise als Geschäftsfrau und Buchhalterin tätig, u.a. in Rinteln an der Weser. 1891 bis 1898 studierte sie in Bern und Zürich Medizin und Jura sowie Volkswirtschaft. Vermutlich blieb ihr Studium aus finanziellen Gründen ohne Abschluss. Spätestens in der Schweiz kam sie mit der Arbeiter*innenbewegung in Kontakt. 1897 machte sie sich mit harscher Kritik am „System sexueller Ausbeutung” und sozialdemokratischer Doppelmoral unbeliebt, nachdem ein Genosse eine junge Arbeiterin vergewaltigt hatte. Mit Anfang Zwanzig beschäftigte sie sich mit moderner Literatur und machte erste publizistische Gehversuche: Es entstanden Rezensionen, Artikel und Leserinnenbriefe. Eine 1903 erschienene Schrift gegen Antifeminismus galt in einer Rezension als „schärfste Replik“ gegen den Frauenhasser und Neurologen Paul Julius Möbius. Elberskirchen war zu dieser Zeit zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Anna (Aebi-)Eysoldt (1868-1913) wieder ins Rheinland zurückgekehrt.
1904 veröffentlichte sie zwei Publikationen, in denen sie Homosexualität thematisiert. Sie outete sich darin offensiv, mutig und selbstbewusst: „Sind wir Frauen der Emanzipation homosexual – nun dann lasse man uns doch!“
„Als einzige (bislang bekannte) Person kritisierte sie scharf die sexualwissenschaftliche ‚Mannweiber‘-Theorie über weibliche Homosexuelle, denen man ‚Männlichkeit‘ unterstellte, diese gar in lesbische Frauen hineinprojizierte. Stattdessen setzte sie in ihren Überlegungen die Subjekte lesbischer Liebe wieder als Frauen und sprach von einem ‚Zug‘ vom ‚Weiblichen‘ zum ‚Weiblichen‘.“ (3). Das war und ist eine innovative Perspektive.
Ab etwa 1910 arbeitete Johanna Elberskirchen als Vorsitzende des Jugendausschusses und als Schriftführerin des Sozialdemokratischen Vereins Bonn-Rheinbach und besuchte in dieser Funktion auch unterschiedliche Versammlungen in Köln. Polizeilich galt sie als eine der Bonner „Hauptagitatorinnen”. Zusammen mit ihrer Vereinsmitstreiterin, der Vorstandsvorsitzenden der Bonner Ortsgruppe des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Margarete Herz (1872-1947), stieß sie vermutlich mit an, dass sich – vergleichsweise spät – auch in Köln eine demokratisch orientierte Frauenstimmrechtsgruppe gründete. Auf der ersten Generalversammlung des Rheinischen Provinzialvereins des Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht 1911 erstattete Elberskirchen im Hotel Bristol in Köln als Schriftführerin Bericht. Beide unterstützten den allerersten Frauentag: Dieser fand unter dem Kampfruf „Heraus mit dem Frauenwahlrecht“ am 19. März 1911 in fünf Ländern statt. Johanna Elberskirchen wurde zweifach in Köln eingesetzt: Als eine der Hauptredner*innen sprach sie nachmittags in Mülheim im Magdeburger Hof und abends in Dünnwald im Lokal Kürten. „Die öffentliche Frauenversammlung in Mülheim war von über 300 Frauen besucht“, heißt es in der Rheinischen Zeitung. Im ganzen Land wurde eine gleichlautende Resolution zum Frauenwahlrecht beschlossen. Am 12. Mai 1912 erhielt sie in Wesseling „für ihre Rede lebhaften Beifall“. 1913 schlossen die Bonner Genoss*innen sie jedoch aus der Partei aus: Ihr paralleles „bürgerliches“ Engagement im Preußischen Landesverein für Frauenstimmrecht vertrage sich nicht mit der Sozialdemokratie – besonders bitter für eine, die aufrecht für ein demokratisches Wahlrecht aller Frauen und Männer stritt. Sie tat dies auch noch zu einem Zeitpunkt, als andere Frauenrechtlerinnen längst bereit waren, die demokratische Forderung zurückzustellen. Im Frühjahr 1914 verließ Elberskirchen das Rheinland für immer.
Polemisch und provokant sind ihre Schriften, vielfach überraschend modern ihre Überlegungen, die auf Freiheit, Partizipation, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit zielen. „Insbesondere an ihren sexualreformerischen Arbeiten zeigen sich am deutlichsten die Bruchstellen und Widersprüche auch ihres emanzipatorischen politischen Lebens – vor allem, weil sie seit der Jahrhundertwende beliebte ‚eugenische‘/‚rassenhygienische‘ Behauptungen und Argumente aufgriff und selbst zu deren Weiterverbreitung beitrug. Das heißt, sie teilte die Idee, es sei notwendig, sogenannte hochwertige Kinder hervorzubringen. Hier schwamm sie nicht – wie so oft – gegen den Strom, sondern mit dem Zeitgeist. Auch das war eine Entscheidung.“(3) Ausgewiesen rassistische oder antisemitische Überlegungen formulierte sie jedoch nicht. Dennoch sucht man in ihrem Werk eine klare Stellungnahme dazu beziehungsweise dagegen vergeblich. Von 1905 bis 1907 vertrat sie vorkriegsnationalistische Töne im Kontext von sozialer Wohlfahrt und Fragen von Mutterschaft.
Nach Tätigkeiten als Naturärztin in Finkenwalde (heute Zdroje) bei Stettin (Szczecin) und in der Berliner Säuglingsfürsorge zog sie 1920 mit ihrer neuen Lebenspartnerin Hildegard („Hilde“) Moniac (1891-1967) nach Rüdersdorf bei Berlin. Dort arbeitete sie in eigener Naturheilpraxis. Von 1914 bis in die 1920er Jahre amtierte sie als „Obmann” des Wissenschaftlich-humanitären Komitees, war dem Berliner Institut für Sexualwissenschaft verbunden und referierte für die Weltliga für Sexualreform, zuletzt in Wien 1930. Offen lesbisch war Johanna Elberskirchen eine Grenzgängerin und Brückenfigur zwischen Arbeiter-, Frauen- und Homosexuellenbewegung.
In Rüdersdorf engagierte sie sich wieder in der SPD – bis zum erzwungenen Ende 1933. Ihr Bändchen „Die Liebe des dritten Geschlechts“ erhielt 1933 das erste Verbot und landete 1938 auf der Liste der unter den Nationalsozialisten verbotenen Bücher. Hildegard Moniac, die in Berlin als Berufsschullehrerin arbeitete, wurde als ehemalige USPDlerin von den Nazis zwangsentlassen. Verarmt und zurückgezogen lebten die Frauen in ihrem Häuschen am Wasser im heutigen Südosten Brandenburgs. Dem Wasser blieb die gebürtige Rheinländerin offenkundig verbunden. Zumindest von Moniac ist bekannt, dass sie leidenschaftlich ruderte.
Mehr als 40 Jahre war Elberskirchen überregional wie auch in Europa bekannt, sogar US-amerikanische Zeitungsmeldungen und eine Rezension liegen zu ihr vor; ihr Name stand und steht für Feminismus, demokratisches Denken und vereinzelt bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse, genauso wie für Entschlossenheit und Streitlust.
Johanna Elberskirchen starb am 17. Mai 1943 im Alter von 79 Jahren in Rüdersdorf bei Berlin. Ihre Urne wurde 1975 heimlich von zwei Frauen in der Grabstätte von Hildegard Moniac mitbeigesetzt. Die Gemeinde stellte das Doppelgrab 2002 unter Schutz und zudem auf dem Friedhof Informationstafeln auf. Seit Ende 2006 erinnert eine Gedenktafel auch an ihrem Bonner Geburtshaus und seit Mai 2017 eine weitere Tafel im Rüdersdorfer Stadtbild an die mutige und feurige Feministin.
Autorinnen*: Ingeborg Boxhammer und Christiane Leidinger
Adressen in Köln
- “Magdeburger Hof“, Freiheitstraße [123/125] in Köln-Mülheim (Rednerin erster Frauentag 1911): heute Mülheimer Freiheit, vermutlich auf Höhe der Hausnummer 125. Das Restaurant wurde 1895 von Carl Magdeburg (ca. 1841-1907) eröffnet. Später führte seine Witwe Elise Magdeburg, geborene Lieberz, mit Unterbrechungen das Lokal weiter.
- Hotel Bristol, Komödienstraße (Versammlung des Rheinischen Provinzialvereins)
- Lokal Kürten, Köln-Dünnwald (Rednerin erster Frauentag 1911)
- Wesseling (Rednerin Frauentag 1912, keine Ortsangabe)
- Ingeborg Boxhammer: „Herrin ihrer selbst“, Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus – Margarete Herz und ihr Freundinnen-Netzwerk. Berlin/Leipzig: Hentrich 2019.
- Christiane Leidinger: Keine Tochter aus gutem Hause. Johanna Elberskirchen (1864-1943). Konstanz: UVK 2008.
- Christiane Leidinger: Johanna Elberskirchen | Digitales Deutsches Frauenarchiv (digitales-deutsches-frauenarchiv.de)
- Ingeborg Boxhammer/Christiane Leidinger: Elberskirchen, Johanna. In: Greve, Clemens/Hock, Sabine (Hrsg.): Frankfurter Personenlexikon. Das Nachschlagewerk mit Frankfurter Biographien aus über 1.200 Jahren Stadtgeschichte. Ein Projekt der Frankfurter Bürgerstiftung, Frankfurt am Main. Online-Ausgabe v. 9.5.2023, URL: Elberskirchen, Johanna | Frankfurter Personenlexikon (frankfurter-personenlexikon.de) , letzter Abruf: 25.5.2023.
- Ingeborg Boxhammer/Christiane Leidinger: Die gebürtige Bonnerin Johanna Elberskirchen (1864-1943) – un/bekannte Pfade und aktuelle Funde zu ihrer Biografie. In: Schloßmacher, Norbert (Hrsg.): Bonner Geschichtsblätter, Bd. 72, Jg. 2023/2024. Bonn (erscheint 12/2023).
- Gemeinde Rüdersdorf: Einweihung historische Tafel Johanna Elberskirchen & Hildegard Moniac. 17.5.2017. URL: Rüdersdorf bei Berlin – Einweihung historische Tafel Johanna Elberskirchen & Hildegard Moniac (ruedersdorf.de), letzter Abruf 4.6.2023.
- Geschichtswerkstatt Köln-Mülheim (Hg.): 100 Jahre Köln-Mülheim, Köln 2020.
- Gisela Notz: „Her mit dem allgemeinen, gleichen Wahlrecht für Mann und Frau!“ Die internationale sozialistische Frauenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Kampf um das Frauenwahlrecht. Friedrich-Ebert-Stiftung. Historisches Forschungszentrum. Heft 80. Bonn: FES 2008.