1938 wurde sie in Wilna, heute Vilnius, geboren. Tamar wuchs bei ihren Eltern auf, ihre Mutter, Jetta Schapiro hatte ein kleines Geschäft für Fahrräder und Nähmaschinen. Die jüdische Familie wurde 1940 gezwungen, die Wohnung in Wilna aufzugeben. Sie konnten in Ponar, wenige Kilometer von Wilna entfernt, eine Unterkunft finden. Als die Deutschen 1941 dort einmarschierten, war Tamar 3 Jahre alt. Ihre Eltern wurden Zeugen von Massenerschießungen in einem kleinen Wald am Ortsrand. Auch Tamars Großmutter wurde erschossen. Nach schwierigen Wegen gelangte die Familie in das Wilnaer Ghetto. Von dort wurde Tamars Vater 1943 abgeholt. Tamar sieht ihn nie wieder. Später, als die Frauen den Männern angeblich hinterher reisen sollten, wurde Jetta Schapiro in einem Viehwaggon in das Durchgangslager Tauroggen gebracht. Mit einem unglaublich großen Überlebenswillen startete sie auf dem Weg in das Lager drei Fluchtversuche. Sie nahm einmal sogar außer der eigenen Tochter noch ein weiteres verlassenes Kind mit. Zweimal scheiterten die Versuche und Jetta Schapiro wurde von Soldaten dafür geprügelt. Ihr Mut blieb ungebrochen. Mit kaum fassbarem Glück konnte Tamars Mutter in einem dritten Fluchtversuch mit ihrer Tochter entkommen. Nach einer erzwungenen Gemeinschaftsdusche nahm die Mutter für sich und Tamar ordentliche Kleidung aus dem Kleiderhaufen im Umkleideraum und ging mit erhobenem Kopf und in selbstbewusster Haltung mit Tamar an der Hand an allen Wachen vorbei, so als wäre sie eine Besucherin. Wie durch ein Wunder glückte diese Flucht.

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Danach allerdings mussten sich beide verstecken. Es folgten Jahre der Flucht, als Arbeiterin auf verschiedenen Bauernhöfen und in ständiger Angst entdeckt zu werden. 1944 wurde Wilna von der roten Armee befreit. Tamar und ihre Mutter gingen daraufhin wieder dorthin zurück. Sie erfuhren dort von der Ermordung des Vaters.

Nach dem Krieg heiratete Jetta Schapiro den Holocaustüberlebenden Siegmund Rosenzweig, mit dem zusammen sie 1948 nach Israel auswanderte. Ihr Tochter Tamar machte dort eine Ausbildung zur Erzieherin. So gern wollte sie in ihrem Beruf Kindern nahe sein, und auf diesem Wege ein Stück der eigenen verlorenen Kindheit zurückerobern.

Jetta Schapiro schrieb 1972 ihre abenteuerliche Fluchtgeschichte auf. Das Buch „Auch wir waren in Ponar – Bekenntnisse einer Wilnaerin“ erschien in hebräischer Sprache und wurde in Israel preisgekrönt.

Tamar heiratete Harry Dreifuss. Mit ihm zog sie trotz ihrer Bedenken 1959 wieder nach Deutschland, weil er in Köln einen Studienplatz für Fotografie bekam. Tamar arbeitete hier als Erzieherin und Religionslehrerin.

Einige Jahre nach dem Tod ihrer Mutter übersetzte Tamar 2002 ihr Buch ins Deutsche. Sie fand nach vielen Absagen anderer Verlage den Rhein-Mosel-Verlag, der es unter dem deutschen Titel „Sag niemals, das ist dein letzter Weg“ herausbrachte. Neben ihrer Arbeit geht Tamar seitdem als Zeitzeugin mit diesem Buch durch die Schulen:

„Ich heiße Tamar und meine Mutter hieß Jetta Schapiro. Ich kann meine Geschichte erzählen, weil meine Mutter mich beschützt hat. Von 80000 Juden in Wilna sind nur wenige am Leben geblieben. Ich bin eine von ihnen. Meine Mutter hat uns beide gerettet. Als ich sie einmalgefragt habe, wie sie das geschafft hat, hat sie geantwortet: „Du hast mir den Mut dazu gegeben. Ich hatte meine kleine Tochter und musste sie beschützen.“

Tamar Dreifuss ist heute 84 Jahre alt. Mittlerweile lebt sie bei München in der Nähe von Tochter und Enkelkindern. Seit Jahrzehnten besucht sie Schulen und erzählt Kindern und Jugendlichen als Zeitzeugin und Holocaustüberlebende ihre Geschichte. Sie leistete wie so viele andere Zeitzeugen einen unglaublich wertvollen Beitrag zur Erziehung junger Menschen. Obwohl vielen Zeitzeugen das Reden über die schmerzvollen Jahre voller Angst und Verzweiflung nicht leichtfällt, stellen sie sich, so wie auch Tamar Dreifuss, unermüdlich den Fragen der jungen Menschen.

Angeregt durch die wissbegierigen Fragen ihrer Enkel entwickelte Tamar den Wunsch, ein Kinderbuch zu schreiben. Sie bekam dafür engagierte Unterstützung und Helfer. Unter der pädagogischen Leitung von Adrian Stellmacher vom „Lern- und Gedenkort Jawne“ nahm das Vorhaben Gestalt an. Es entstand 2009 eine Projektgruppe mit Schülern aus der Eulenklasse der Grundschule Mülheimer Freiheit und der Lehrerin Anke Lug-Lommel. In mehreren Wochen intensiver Arbeit erfragten die Schüler Tamars aufregende und traurige Geschichte, sie malten und schrieben dazu. Die Bilder und Texte wurden erprobt und von den Kindern weiterentwickelt. Das Projekt mit der Eulenklasse erhielt 2009 den „Mixed-up Preis“ der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung. Aus den Projekt-Materialien und Originalfotos aus Wilna entstand das Buch „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar 1944. Ein jüdisches Mädchen überlebt den Holocaust in Osteuropa.“ Es erschien 2010. Es ist das Ergebnis der Arbeit von vielen Kindern und Erwachsenen.

Tamars Geschichte ist sehr klar, spannend und nachvollziehbar. Sie enthält viele Elemente, mit denen Kinder in die Geschichte hineinfinden: Familie und Freunde, Trennungen und Ängste, Getröstet werden, Spielen, Verstecke, wundersame Rettungen, ein gefährlicher Hund wird gezähmt und erweist sich als Beschützer. Das Buch berücksichtigt vor allem die wichtige Erkenntnis, dass Erzählungen die Hoffnungen der Kinder nicht zerstören dürfen und einen guten Ausgang haben sollten.

„Meine Geschichte ist sehr aufregend und auch traurig. Aber Hauptsache, das Ende ist gut. Und das Ende ist gut. Ich bin ja da. Das Schöne ist, dass ich lebe.“

Mit Hilfe dieses Buches lässt Tamar Dreifuss seitdem unendlich vielen Kindern und Jugendlichen ein wichtiges Stück deutscher Geschichte lebendig werden.

Samuel Bak, Tamars Cousin, schreibt: „Sie erweitert die Möglichkeiten der Kinder zu denken, zu fühlen, zu bewerten. Sie erreicht Kopf und Herz derjenigen, die bald die Gestalter der kommenden Gesellschaft sein werden. In die Seele dieser Menschen hat sie das Wissen gepflanzt, was Rassismus bedeutet, was Intoleranz verursachen kann, und was Menschen fähig sind, einander anzutun. Wir müssen hoffen, dass dieses Wissen sie davor bewahren wird, die Fehler der Menschheit zu wiederholen.“

Für ihre Arbeit als Zeitzeugin hochgeschätzt sprach sie zuletzt auf Einladung von Ministerpräsiden Hendrik Wüst am 27. Januar 2022 bei der Holocaust-Gedenkfeier im Landtag von NRW in Düsseldorf.

 „Meine Geschichte ist sehr aufregend und auch traurig. Aber Hauptsache, das Ende ist gut. Und das Ende ist gut. Ich bin ja da. Das Schöne ist, dass ich lebe.“

Autorin: Beate Gröschel