Marie Juchacz (1879-1956) war SPD-Politikerin, Parlamentsabgeordnete in der Weimarer Republik und die Begründerin der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Sie spielte eine bedeutende Rolle in der Geschichte der deutschen Frauenbewegung und im Kampf um die Gleichberechtigung.

Geboren am 15. März 1879 in Landsberg an der Warthe (heute Polen) besuchte Marie Gohlke die Volksschule und arbeitete drei Jahre lang als Dienstmädchen in verschiedenen Haushalten, später in der Fabrik. Vom ersparten Geld absolvierte sie einen Kurs in Weißnähen und Schneiderei und begann eine Tätigkeit in der Schneiderei von Bernhard Juchacz, den sie 1903 heiratete. Die Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen, Lotte und Paul, hielt nur drei Jahre.

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Angeregt durch ihren älteren Bruder begann sich Marie für Politik zu interessieren, vor allem für die Sozialdemokratie. Nach der Trennung von ihrem Mann zog sie 1906 mit ihren Kindern und der neun Jahre jüngeren Schwester Schwester Elisabeth (1888-1930) nach Berlin. Hier lebten die beiden Frauen, die lebenslang ein ausgesprochen vertrauensvolles Verhältnis verband, vom Nähen in Heimarbeit. Ein Jahr später traten sie dem Frauen- und Mädchenbildungsverein Schöneberg bei. Dabei handelte es sich quasi um eine sozialdemokratische Tarnorganisation, denn aufgrund des Preußischen Vereinsgesetzes war Frauen die Mitgliedschaft in Vereinen verboten. Marie und Elisabeth engagierten sich schon bald in der sozialdemokratischen Frauenbewegung, leiteten Versammlungen und hielten Vorträge wie „Frauenarbeit in der heutigen Gesellschaft“. 1908, als das veraltete Vereinsgesetz aufgehoben wurde, traten sie in die SPD ein. Schon bald machte sich Marie Juchacz als Politikerin einen Namen und bekam 1913 das Angebot, als bezahlte Frauensekretärin in Köln zu arbeiten. Hier begann ihre politische Karriere. Auch ihre Schwester zog mit den drei Kindern noch im gleichen Jahr an den Rhein.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, ging es für die Sozialdemokratinnen vornehmlich um die Frage, wie die Probleme der Frauen in dieser Situation gelöst werden konnten. Marie Juchacz arbeitete in der Nationalen Frauengemeinschaft mit und kam in den Ernährungsausschuss, in dem die vom Reich rationierten Lebensmittel verteilt wurden. Darüber hinaus lernte sie in dieser Zeit einiges über das Armenrecht und erkannte die Notwendigkeit einer verbesserten Armenpflege durch gelernte Kräfte aus der Arbeiterschaft. Sie konnten die Notlage besser verstehen als die Ehrenamtlichen des Bürgertums.

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Nach vier Jahren in Köln übernahm Marie Juchacz 1917 die Stelle der zentralen Frauensekretärin der SPD in Berlin und wurde im Oktober als einzige Frau in den Parteivorstand der MSPD gewählt, der Mehrheitssozialistischen Partei Deutschlands.

Ihr politischer Schwerpunkt blieb die Sozialpolitik, mit besonderem Blick auf die Mütter, die in den Kriegsjahren überwiegend erwerbstätig geworden waren und deren Lebensbedingungen sich zunehmend verschlechterten.

Nach Kriegsende wurde Marie Juchacz im Januar 1919 ebenso wie ihre Schwester Elisabeth in die Verfassungsgebende Versammlung der Weimarer Republik gewählt. Im Verfassungsausschuss beantragte sie, den Passus „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte“ aufzunehmen.

In ihrer ersten Rede vor dem Parlament am 19. Februar 1919, der ersten Parlamentsrede einer Frau in Deutschland überhaupt, betonte sie noch einmal die besonderen Stärken des weiblichen Geschlechts: „Wir Frauen werden mit ganz besonderem Eifer tätig sein auf dem Gebiet des Schulwesens und auf dem Gebiet der allgemeinen Volksbildung…Die gesamte Sozialpolitik überhaupt, einschließlich des Mutterschutzes, der Säuglings- und Kinderfürsorge wird im weitesten Sinne Spezialgebiet der Frauen sein müssen.“

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Seitdem Marie Juchacz im Nationalen Frauenausschuss mitgearbeitet hatte, hatte sie sich vorgenommen, eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege zu gründen. Sie rief daher beim Parteivorstand der SPD den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ ins Leben, gründete noch im gleichen Jahr, am 13. Dezember 1919 die Arbeiterwohlfahrt (AWO) und übernahm den Vorsitz. Ziel war die Verbesserung der staatlichen Fürsorge nicht nur für die arbeitende Bevölkerung. Dazu schrieb sie später: „Dabei ist voranzustellen, was wir sind und was wir wollen. Arbeiterwohlfahrt – also Wohlfahrt nur für Arbeiter? – Nein. Eine Wohlfahrtspflege ausgeübt durch die Arbeiterschaft. Eine Organisation, hervorgewachsen aus der Arbeiterbewegung, mit dem bewussten Willen, in das große Arbeitsgebiet der Wohlfahrtspflege ihre Ideen hineinzutragen, die Idee der Selbsthilfe, der Kameradschaftlichkeit und Solidarität…“ Die AWO entwickelte sich zum Erfolgsmodell und besaß 1926 fast 2000 Ortsausschüsse.

Vom 1920 bis 1933 gehörte Marie Juchacz dem Reichstag an und konzentrierte sich auf sozialpolitische Fragen, aber auch frauenrechtlich relevante Themen wie Ehescheidung und Paragraf 218. Doch die AWO rückte zunehmend ins Zentrum ihrer Aktivitäten, die parteipolitischen Funktionen verloren für sie an Bedeutung.

Grab von Marie Juchacz Kirschmann
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Nach dem plötzlichen Tod ihrer Schwester Elisabeth 1930 verstärkte sie die Arbeit für die AWO weiter, bis die sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten selbst auflöste, um nicht vereinnahmt und „gleichgeschaltet“ zu werden. Marie Juchacz, beschloss, Deutschland sicherheitshalber zu verlassen und floh gemeinsam mit ihrem Schwager Emil Kirschbaum ins Saarland, von dort aus 1935 weiter ins Elsass, wo beide im Widerstand tätig waren. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs mussten sie erneut fliehen, zunächst nach Südfrankreich, dann in die Vereinigten Staaten, wo sie mit Hertha Kraus Kontakt aufnahm.

Anfang Februar 1949 kehrte die inzwischen 70-jährige Marie Juchacz nach Deutschland zurück und war bis zu ihrem Tod Ehrenvorsitzende der AWO. Sie starb am 28. Januar 1956. Ihr Grab auf dem Kölner Südfriedhof, in dem auch ihre Schwester Elisabeth und ihr 1949 verstorbener Schwager Emil Kirschmann beigesetzt sind, wurde 2011 vom Rat der Stadt Köln zur Ehrengrabstätte erklärt. Die 1977 in Betrieb genommene Senioreneinrichtung der AWO in Köln-Chorweiler trägt ihren Namen: Marie-Juchacz-Zentrum.

Autorin: Karin Feuerstein-Prasser

Quellen

Lotte Lemke, Marie Juchacz, Gründerin der Arbeiterwohlfahrt 1879-1956, Donauwörth 1979