Vom Gastarbeiterkind zur Politikerin

Geboren wurde ich 1959 in Faraç-Dersim. Ich bin Mutter von zwei erwachsenen Kindern und habe drei Enkelkinder.

© privat

Durch Familienzusammenführung kam ich 1972 nach Sundern im Sauerland. Es war schwierig, mich in eine neue Kultur einzuordnen. Denn ich musste wieder eine fremde Sprache lernen, um in die Schule zu kommen. Dabei hatte ich doch damals schon als Kurdin die türkische Sprache lernen müssen. Das war für mich gleichbedeutend mit Assimilation! Ich wollte wieder zurück in die Heimat. Erst nach einem Jahr und mit großer Unterstützung meiner Mutter habe ich mich entschieden, in Deutschland zu bleiben.

Dann begann für mich das Leben mit Familie und Geschwistern. Ich ging zur Schule, erreichte das Fachabitur und studierte an der Rheinischen Akademie Köln mit Abschluss als chemisch-technische Assistentin. Ich heiratete und begann 1980 im Institut für Biochemie der Universität zu Köln zu arbeiten. Nach 40 Jahren Dienst bin ich seit 2021 im Ruhestand.

Aus Betroffenheit in die Politik  

Schon als Kind erfuhr ich feudale Familienstrukturen und Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, weshalb ich leidenschaftlich für Frauenrechte kämpfe. Sozialisiert und politisiert wurde ich in Köln, denn ich merkte schon sehr früh, dass auch hier die Welt nicht in Ordnung ist: Frauen sind dem Mann nicht gleichgestellt, MigrantInnen haben kein Mitspracherecht, KurdInnen und Linke Gruppen aus der Türkei werden kriminalisiert und nicht gleichgestellt.

Mein erstes zivilgesellschaftliches Engagement begann 1995 im Ausländerbeirat der Stadt Köln. Der Ausländerbeirat ist ein Gremium, in dem sich MigrantInnen, die kein Wahlrecht haben, für ihre Belange einsetzen. Um mehr Befugnisse und Chancengleichheit zu bekommen, nennt sich dieses Gremium jetzt Integrationsrat. Ich vermisse immer noch eine gleichberechtigte, politische Teilhabe und Mitgestaltung in der Politik. Deswegen setze ich mich ein für „Wahlrecht für Alle!“, die einen dauerhaften Wohnsitz haben. Denn das Wahlrecht ist eine wichtige Einflussnahme auf die Politik und Mitgestaltung der Lebensverhältnisse.

© Yusuf Karatekin

Geprägt von diesen Verhältnissen ging ich in die Politik. Zunächst war ich von 1995-1998 Mitglied von Bündnis 90 /Die Grünen. Hier war ich in der Migrations- und Friedenspolitik aktiv. Als die Grünen 1991 im Jugoslawienkrieg die Vorreiterrolle übernahmen, trat ich aus und 1998 in die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) ein. 2004 bis 2006 war ich Co-Sprecherin der PDS. Hier begann ich meine Politikfelder auszuweiten und meinen Einsatz für Frieden, Migration und Menschenrechte sichtbar zu machen. Ich setzte mich für die Belange der KurdInnen ein. Kurdisch wird in vielen Ländern offiziell an den Grundschulen unterrichtet, in NRW seit 1997. Erst nach langem Einsatz der kurdischen Elterninitiative beim Schulamt und bei der Landesregierung konnte auch in Köln der Kurdisch-Unterricht genehmigt werden. Heute nehmen in verschiedenen Stadtteilen ca. 200 Kinder erfolgreich am Unterricht teil. Das ist sehr erfreulich. Denn in der Türkei ist Unterricht in Kurdisch immer noch verboten. Die türkische Staatsideologie leugnet bis heute die Kurden und ihr Recht auf Bildung! Nach dieser Errungenschaft stellte ich fest, dass in der Diaspora lebende Menschen etwas erreichen können, wenn sie sich für ihre Rechte einsetzen. So begann für mich eine spannende Zeit.

Köln Ostermarsch 2016, © Hans-Dieter Hey /R-Mediabase.eu

Ich ging in die Politik: Mitglied des PDS Kreisvorstandes Köln später Die Linke, Sprecherin LAG Ökologische Plattform, Mitglied der Linken Sozialistischen Arbeitsgemeinschaft Frauen (LISA), WIR Frauen und zuletzt NRW-Landesvorstand der Partei Die Linke mit dem Schwerpunkt Frauen- Frieden- und Umweltpolitik. Diese drei Themen begleiteten mich in mein nächstes politisches Leben.

2010 wurde ich Landtagsabgeordnete der Partei Die Linke und war Frauen- und umweltpolitische Sprecherin, im Petitionsausschuss und im Ausschuss Internationales – Eine Weltpolitik. Es war eine sehr spannende und bewegende Zeit. Leider war sie nur kurz. 2012 scheiterte der NRW-Haushalt, das Parlament wurde aufgelöst, und es kam zu Neuwahlen. Meine Partei scheiterte an der 5% Hürde. Aber in dieser kurzen Zeit waren wir als sechsköpfige Fraktion in allen Ausschüssen vertreten und leisteten eine gute parlamentarische und außerparlamentarische Arbeit.

2014 wurde ich Mitglied im Rat der Stadt Köln und arbeitete bis 2020 mit gleichen Schwerpunkten. Ich habe mich insbesondere für das Errichten eines 3. Frauenhaus in Köln eingesetzt, weil in den bestehenden Kölner Frauenhäusern nicht genügend Schutzplätze vorhanden waren (1).

Nebenbei begleiteten mich während meiner gesamten politischen Arbeit die Themen Frieden, Flüchtlinge, Antirassismus und die kurdische Frage, hier, in der Türkei bzw. in Rojava. So unterstützte ich die Aktionen, die den Fokus auf die ungleichen Zustände in Deutschland und in der Türkei legten. Eines der großen Projekte, an dem ich aktiv mitgewirkt habe, war Cadus-Redefine Global Solidaritäty „Mobilkrankenhaus in Rojava/Nordsyrien“ (2).

© Klaus Müller

Ich war Mitveranstalterin der Solidaritätsveranstaltung zugunsten der politischen Gefangenen und Freiheit für Selahattin Demirtaş (Co-Vorsitzender der HDP) in Köln (3).

© Andreas Wolter

Im Juni 2021 reiste ich mit meinem Mann in die Türkei. Im September 2021 wurde ich in Karakoçan (Provinz Elazığ) festgenommen und verhört. Gegen Auflagen zwei Mal Meldepflicht und Ausreisesperre nach Deutschland kam ich wieder frei. Nach viel Solidarität und Einsatz aus der Zivilgesellschaft und Politik konnte ich nach fünf Monaten am 27.Januar 2022 nach Köln zurückkehren (4).

Es war eine Zeit im Freiluftgefängnis. Meine Reisefreiheit war eingeschränkt, ich verlor meinen Freundeskreis. Denn aus Angst beendeten sie ihren Kontakt mit mir. Das tat mir sehr weh. Ich konnte das aber gut nachvollziehen, denn es herrschte eine Atmosphäre der Angst. Viele von ihnen hatten mindestens einmal Gefängnisaufenthalt oder Folter hinter sich. Deswegen wollte ich sie nicht gefährden.

Nun lebe ich mit meiner Familie in Köln und genieße die Vorzüge der Demokratie. Ich nehme an Veranstaltungen teil, gestalte mit und versuche, meine politischen Erfahrungen dort einzubringen, wo ich gebraucht werde. Und das tut mir gut.

Autorin: Hamide Akbayir