Gertraut kam am 16. September 1942 in Rathenow an der Havel zur Welt, gezeugt von einem sowjetischen Kriegsgefangenen, der in Brandenburg zur Zwangsarbeit eingesetzt war. Die Mutter war in Rathenow Milchhändlerin und gab dem Kind den Namen Carola Muth. Als der Ehemann der Mutter aus dem Krieg zurückkehrte, wurde das kleine Mädchen zur Adoption freigegeben. In Berlin übergab man das Kind den neuen Eltern, einem Ehepaar aus Köln, die die Kleine in Gertraut umbenannten.

Portrait Gertraut Müller
© Irene Franken

Die Kölner Eltern waren streng katholisch, entsprechend wurde das Kind erzogen. Schon als Jugendliche verliebte sie sich in Frauen. Während ihrer Ausbildung zur Kinderkrankenschwester wurde sie mit einer Kollegin auf dem Bett erwischt. Die Leitung des städtischen Kinderheims wollte Gertraut rausschmeißen, aber auch schon damals zeigte sich ihre Kraft und ihre Widerständigkeit. Mit dem Satz „Das dürfen Sie gar nicht!“ wehrte sie sich erfolgreich gegen den Rausschmiss.

Aber Gertraut hatte gelernt: Die Liebe zu Frauen war in der damaligen Gesellschaft ein Tabu und brachte sie immer wieder in schwere Konflikte. Auch mit ihrem christlichen Glauben. Sie beschloss den Weg der „Normalität“ zu gehen, heiratete Manfred Müller, einen Studienkollegen von der Sozialarbeiterschule. Mit Manfred bildete Gertraut ein erfolgreiches Arbeitsteam, unter anderem bei der IGO (Interessengemeinschaft Obdachlosigkeit) in Köln. In ihrer Heimatstadt war die Frau mit der ausgeprägten kölschen Sprachfärbung in der linken Szene gut vernetzt, liebte den Karneval und weiterhin die Frauen, was um 1970 herum noch stark tabuisiert war. Die einschlägigen Lokale hatten bestenfalls ein „Künstler“-Image oder galten gleich als Teil der kriminellen Szene.

Der Wendepunkt in Gertrauts Leben kam 1971 mit der Selbstbezichtigungskampagne gegen den Abtreibungsparagraphen 218. Gertraut hatte die Initiatorin Alice Schwarzer kennengelernt und gleich damit begonnen, im Kölner Umfeld Unterstützerinnen einzuwerben. Auch Gertrauts Name erschien im Juni 1971 unter dem Manifest im Stern. Sie selbst hatte zwar nie abgetrieben, im Gegenteil versucht, ein Kind zu bekommen. Aber sie hatte das Elend der obdachlosen Frauen gesehen, die wiederholt ungewollt schwanger wurden und anders als bürgerliche Frauen nicht das Geld und die Beziehungen hatten, um die Schwangerschaft abbrechen zu lassen. Das halbe Dutzend Kölnerinnen, deren Namen unter dem Manifest standen, bildeten den örtlichen Kern der sich bald darauf bundesweit organisierenden „Aktion 218“.

In der Kölner Gruppe, die sich montags abends im Republikanischen Club am Römerturm traf, spielte Gertraut von Anfang an eine wichtige Rolle, vor allem, wenn es um die Organisation größerer Veranstaltungen ging. Dabei zögerte sie nie, die feinsten Säle der Stadt anzumieten, beim bundesweiten Tribunal gegen den Paragraphen 218 im Juni 1972 den Gürzenich, die „Wolkenburg“ fürs erste Kölner Frauenfest 1976. Im gleichen Jahr konnte dank ihrer Tatkraft das Frauenzentrum Eifelstrasse öffnen.

Als sie die Kölner Gruppe, die sich inzwischen „Frauenbefreiungsaktion“ (FBA) nannte, nicht von der Notwendigkeit eines AK Homosexuelle Frauen überzeugen konnte, gründete sie die HFA (Homosexuelle Frauenaktion). Die Gruppe existierte nur kurz, war aber wohl die einzige Lesbengruppe, die damals nicht aus der Homosexuellenbewegung der Männer entstand.

Gertraut, die so wunderbar planen und organisieren konnte, die jahrelang den Laden schmiss, die nicht viel von theoretischem Gequatsche hielt, sondern zu Taten drängte, die auch noch solide finanziert werden sollten, nervte aber auch viele Frauen mit ihrem Aktionismus, wurde nicht nur geliebt und bewundert, sondern auch abgelehnt und gehasst. Zum Eklat kam es 1979. Es ging darum, ob Transsexuelle Zutritt zum Frauenzentrum Eifelstrasse haben sollten. Eine knappe Mehrheit sprach sich dafür aus. Gertraut gehörte zur unterlegenen großen Minderheit und zog mit Eklat aus dem Frauenzentrum aus.

Beruflich hatte sie schon länger als Sozialarbeiterin im Justizvollzug gearbeitet. Als sich jetzt die Gelegenheit bot, eine Stelle im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim unter der Leitung der bekannten Reformerin Helga Einsele anzutreten, griff Gertraut zu, verließ Köln und zog nach Frankfurt. Als Einsele in Pension ging, Gertrauts Beziehung zu einer Kollegin zerbrach, zog sie sich beruflich zurück, ging nach Berlin, wo sie in der Bauingenieurin Uta bald eine neue Partnerin fand. Die Beiden kauften nach der Wende heruntergekommene Altbauten im Stadtteil Prenzlauer Berg, restaurierten sie und zogen selber ein. 

Auch in Berlin engagierte Gertraut sich in der Frauenszene, arbeitete beim Frauenkrisentelefon, mischte mit beim Projekt Weiberwirtschaft und im Frauenlokal „Golden Girls“. Manche ihrer Projekte scheiterten. Der unbedingte Elan, mit dem sich Gertraut in die Umsetzung so manches Traumes schmiss, entsprach nicht immer den Persönlichkeiten ihrer Mitstreiterinnen. Es fehlte ihr dann oft an Geschmeidigkeit und Flexibilität, eine gewisse Verbitterung blieb zurück.

Zufriedenheit gab es in ihren letzten Lebensjahren vor allem an der Seite ihrer Lebensgefährtin Uta. Mit ihr schuf sie sich zumindest privat das, wonach sie sich immer gesehnt hatte: einen Frauenort in Gestalt ihres Mietshauses, in dem sie selber akzeptiert und zu Hause war.

Gertraut starb 1999 nach kurzer, schwerer Krankheit in Berlin. Sie ist auch dort beerdigt, aber ihr Herz gehörte immer Köln.

Autorin: Claudia Pinl