Mein Vater war selbstständiger Tischler und später Möbelfabrikant. Ich liebe den Geruch und die Oberfläche von Holz – so wie die ganze Familie. Drei von meinen vier Brüdern haben sich einen Beruf gesucht, der mit Holz zu tun hat. Ich wäre gerne Architektin geworden. Aber mein Vater war der Ansicht, eine junge Frau als Lehrling im Betrieb würde die Männer von der Arbeit abhalten. Als ich 16 war, erkrankte meine Mutter an Darmkrebs. Wir – vor allem mein Vater und ich – pflegten sie zuhause bis zu ihrem Tode. Daraufhin beschloss ich, Ärztin zu werden und zu Krebs zu forschen.

© Christel Becker-Rau
Ich musste ganz schön kämpfen, um eine Weiterbildungsstelle an der Universitätsfrauenklinik zu bekommen, obwohl ich dort bereits für meine Dissertation im Labor gearbeitet hatte: Drei Bewerbungen bzw. Vorstellungsgespräche mit zwei Absagen, weil ich eine Frau war – das war damals noch eine legitime Begründung. Der Einsatz hat sich gelohnt, denn durch die Spezialsprechstunden der Poliklinik war ich gut auf die Praxis vorbereitet.
Zeitgleich war ich aktiv in der Frauenbewegung und Mitbegründerin der Frauenberatungsstelle „Frauen lernen leben“ 1981 in Köln-Ehrenfeld. Die systematische Auseinandersetzung mit feministischer Theorie und Praxis in der Frauengruppe, der Frauen-(Gesundheits-) Bewegung sowie der Frauentherapiekongresse gaben mir eine emotionale und intellektuelle Heimat, Standpunkte, von denen aus ich patriarchale Machtstrukturen erkennen und hinterfragen konnte. Das schärfte auch den Blick für die Diskriminierung von Minderheiten. Eine Offenbarung dieser Zeit war für mich die Entdeckung der Frauenliebe. Seither lebe ich lesbisch.

© Stephanie Lange
Die eigene Praxis machte von Anfang an Spaß. Von einem Tag auf den anderen wurden mir als Ärztin Vertrauen und Anerkennung geschenkt. Als Feministin wollte ich emanzipatorisch wirken. Das Frauengesundheitszentrum Berlin FFGZ (z.B. die Zeitschrift Clio) und das Frauengesundheitskollektiv aus Boston mit feministischen Forschungen und wegweisenden Büchern wie ‚Unser Körper Unser Leben‘ (das meist-geklaute Buch unserer Praxisbibliothek) waren meine Lehrmeisterinnen.
Mir war wichtig, dass Frauen ihren Körper kennen(-lernen) und ihre Gesundheitsprobleme verstehen, anstatt in Unmündigkeit der ärztlichen Autorität vertrauen. Dafür brauchte ich kommunikative Kompetenzen. Psychotherapeutische Aus- und Weiterbildungen halfen, manchmal hinderten sie auch, z.B. durch festgeschriebene Rollenbilder und Diskriminierung von Homosexualität. Um dem etwas entgegenzusetzen, machte ich von 1986-1992 zusätzlich eine Ausbildung in Sexualtherapie an der Universitätsklinik Hamburg und bot Paartherapie explizit auch für lesbische Paare an.
Die Pionierarbeit mussten wir Feministinnen selbst leisten, vor allem das Thema Gewalt gegen Frauen enttabuisieren und die Grundlagen der Psychotraumatologie erarbeiten. Dafür vernetzten sich die autonomen Frauenprojekte bundesweit. Den ersten professionellen Leitfaden für die Untersuchung von vergewaltigten Frauen erstellte das Frauengesundheitszentrum Lübeck. Ein weiteres Tabuthema waren Essstörungen. Fachlich wegweisend war 1986 der Kongress der Frauenberatungsstelle FrauenLeben „Die unerträgliche Schwere des weiblichen Seins“ in Köln mit Susan Orbach (London).

© Maria Beckermann
Rückenstärkung erhielt die feministische Gynäkologie zu keinem Zeitpunkt von traditionellen ärztlichen Organisationen – aber aus der Evidenz-basierten Medizin (EbM). Denn diese prüft auf wissenschaftlicher Basis, Methoden-übergreifend und ideologiefrei (soweit möglich) den Nutzen und Schaden von Interventionen. An dem ersten Kurs nahm ich 1994 in Einsiedeln in der Schweiz teil. Angesprochen hatte mich der Titel: „Frauen, willige Opfer der Medizin?“ EbM schützt vor Überdiagnostik und -therapie, d.h. vor Maßnahmen, die mehr schaden als nützen, die aber aus sekundären Motiven in Betracht gezogen werden, z.B. Operationen, die die Ängste der Patientin reduzieren oder die ökonomische Lage von Gesundheitseinrichtungen verbessern sollen.
Mein wichtigstes berufliches Netzwerk war der AKF (Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft) e.V. Hier reflektierten wir unsere Arbeit und unsere Rollen als Ärztinnen kritisch, setzten uns gegen patriarchale und interessensgesteuerte Berufsverbände zur Wehr und entwickelten frauengerechte Behandlungskriterien. Wir organisierten Tagungen und hatten in der Fach- und Laien-Öffentlichkeit eine Stimme, die sich parteilich für Frauen, gegen die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen (z.B. gegen IGE-Leistungen) und für eine gleichberechtigte multiprofessionelle Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe aussprach. Sechs Jahre lang war ich Erste Vorsitzende des AKF und konnte bundesweit Einfluss nehmen auf die Frauengesundheitspolitik.

© Christel Becker-Rau
Zusammen mit meiner Mitherausgeberin Friederike Perl und 75 Autorinnen schrieben wir das erste deutschsprachige feministische Gynäkologie-Lehrbuch: ‚Frauen-Heilkunde und Geburts-Hilfe – Integration einer Evidence-based Medicine in eine frauenzentrierte Gynäkologie‘. Zum ersten Mal beschreibt Helga Seyler hier detailliert, wie eine Abtreibung mit dem Absauggerät durchgeführt wird – Wissen, das, soweit in den 1990er Jahren in Deutschland überhaupt vorhanden, bis dato unter Ärzten nur mündlich weitergegeben wurde. Die Maxime einer frauengerechten Gynäkologie ist Selbstbestimmung, ob beim gynäkologischen Untersuchungsvorgang, bei Geburten und Reproduktionsfragen oder bei der Brustkrebsbehandlung. Selbstbestimmung setzt voraus, dass Frauen so viel Informationen und Unterstützung bekommen, wie sie brauchen, um ihre eigene Entscheidung zu treffen.
Wir kritisierten die Medikalisierung von Frauen und stellten in den 1990er Jahren die flächendeckende Hormonbehandlung von Frauen in den Wechseljahren auf den wissenschaftlichen Prüfstand. 2001 veröffentlichte ich eine systematische Evaluation der Studien zu Vor- und Nachteilen einer Hormontherapie in den Wechseljahren. Ich wurde Gutachterin bei der Stiftung Warentest, Autorin im Standardwerk der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft ‚Arzneiverordnungen‘ und 18 Jahre lang Mitglied der Leitlinienkommission ‚Peri- und Postmenopause‘.

Maria Beckermann neben ihrer Frau Fritzi Wild
© LAG Lesben NRW
Dass ich auch ohne universitären Hintergrund so viele Chancen nutzen konnte, führe ich auf die Erfahrungen in der Frauenbewegung zurück. Wir hatten gelernt, unsere Ziele auch dann umzusetzen, wenn sie nicht für uns Frauen vorgesehen waren. Mitmischen, auch wenn wir nicht darum gebeten wurden. Ich habe viele Projekte initiiert. Vorangehen und Mitstreiter*innen auf Augenhöhe mitnehmen, darin bin ich geübt. Im Jahre 2014 bekam ich von der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW den Augspurg-Heymann-Preis für couragierte Lesben wegen meines besonderen Engagements für Lesbengesundheit.
Dankbar bin ich all denen, die mich machen ließen und mitmachten, vor allem meiner Kollegin Anne Gutzmann und meiner Frau Fritzi Wild, die als Informatikerin zum Beispiel dafür verantwortlich war, dass wir bereits 1997 eine papierlose Praxis hatten. Es ist mir eine Freude, die Nachhaltigkeit meiner Initiativen zu sehen, denn die Projekte gibt es heute noch.
Aktuell erstellen wir von der Stiftung Frauen*leben in Köln www.stiftung-frauenleben.koeln zusammen mit dem Kölner Frauengeschichtsverein und dem Amt für die Gleichstellung von Frauen und Männern der Stadt Köln den Kölner Frauen*Stadtplan www.frauenstadtplan.koeln , der den Beitrag von Frauen und Frauenprojekten zum gesellschaftlichen Leben in Köln sichtbar macht. Wieder ist es ein Gemeinschaftswerk, und wieder bringt es Spaß und Inspiration, der aktuell bedrohlichen weltpolitischen Lage zum Trotz.
Maria Beckermann