Im Sternzeichen des Stiers erblickt Brigitte Siegel 1953 in einem kleinen nordhessischen Dorf das Licht der Welt. Mit 14 Jahren muss sie die Schule verlassen, um im Laden der Mutter Einzelhandelskauffrau zu lernen. Aber ihr Hunger nach Bildung und Sinn treibt sie weiter. Sie geht den „zweiten Bildungsweg“, macht ein Fachabitur am HFB Neuwied und studiert nebenberuflich an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie in Bonn. Später kommt noch eine Ausbildung zur Industriekauffrau hinzu.
Als sie Anfang der 70er Jahren schwanger wird und vor der Frage steht, ob sie abtreiben soll oder nicht, entscheidet sie sich für das Kind und für den Feminismus. Abtreibung war damals nur in den Niederlanden und in England möglich. Brigitte organisiert von nun an, gemeinsam mit anderen Frauen, Abtreibungsfahrten in die Niederlande: „Das war jedes Mal eine Straftat“. Von nun an ist sie bei vielen feministischen Initiativen in Köln, Bonn und Umkreis und auch bundesweit dabei.
Vor allem haben es ihr die Themen Frauenrechte, Frauen und Arbeit, Frauenbildung und Lesbenpolitik angetan. Sie gestaltet aktiv die Gründung und den Aufbau verschiedener Frauenprojekte mit, darunter die „Fraueninitiative 6. Oktober“ und ein Frauenhaus in Bonn. Später übernimmt sie Projektentwicklungen in Mittel- und Osteuropa für die Grünen-nahe ‚FrauenAnstiftung‘ mit Sitz in Hamburg. Aber auch das Vergnügen kommt nicht zu kurz bei der genussfreudigen Hessin – so organisiert sie zum Beispiel Frauentanzkurse.
Als 1979 das Frauenbildungshaus Zülpich eröffnet, gehört Brigitte Siegel zu einer der ersten Besucherinnen. Henny Taraschewski fragt sie Anfang der 80er Jahre, ob sie sich nicht vorstellen könne, mit dem Arbeitsbereich Finanzen und Buchhaltung im Frauenbildungshaus ins Team einzusteigen. Zuvor gründet sie noch gemeinsam mit anderen Frauen den Verein für politische Frauenbildung e.V., der als anerkannter und geförderter Verein am Frauenbildungshaus angesiedelt wird. Sie sagt zu. Das – und Brigitte ist sich dessen bewusst – bedeutet für sie damals Kollektivlohn, der sehr viel geringer ist als ihr bisheriges Gehalt in der Industrie.
Neben ihrer Angestelltenarbeit im Frauenbildungshaus gibt sie Existenzgründungs- und Buchhaltungskurse für Frauen, die Frauenprojekte oder eigene Unternehmen führen. „Das war“, so eine ihrer Weggefährtinnen, „Empowerment im besten Sinne. Denn die Frauen waren meistens Laiinnen auf dem Gebiet der Projektfinanzen. Durch das von Brigitte vermittelte Wissen konnten sie sich aus Abhängigkeit befreien, sich selbst in einem männlich besetzten Feld Durchblick verschaffen und hatten so einen besseren Stand in der Welt zwischen Zuschussstellen und Ämtern. Sie vermittelte niemals nur Wissen und Durchblick, sondern auch die politische Bedeutung von Wissen und Lust an kreativer Gestaltung des Finanzbereiches und an Selbstvertrauen im Umgang mit Gesetzen und Ministerien.“
Für Brigitte Siegel selbst markiert die Arbeit im Frauenbildungshaus Zülpich den Beginn einer neuen Ära: „Ab hier wurde die Frauen- und Lesbenbewegung zu meinem Beruf“. Ein Beruf, dessen Herausforderungen sie immer wieder kreativ, mutig und engagiert ausfüllt. Eines ihrer größten Projekte: Der große Um- und Ausbau der alten Scheune des Frauenbildungshauses mit einem 13köpfigen Bau-Fachfrauenteam. Fachfrauen, Handwerkerinnen koordinieren, Zuschüsse beantragen, Stellen verwalten, Baumaterial besorgen – und das alles mit den bisherigen Strukturen des Hausteams vereinen, ist keine einfache Aufgabe. Brigitte meistert sie mit der ihrer eigenen Art aus Zielstrebigkeit, Integrationskraft, Furchtlosigkeit, Willensstärke und visionärem Geist. Und nicht zu vergessen: Mit Engelsgeduld und Gelassenheit.
Letztere habe ich als Teilnehmerinnen eines Handwerkerinnenkurses im Frauenbildungshaus selbst erleben dürfen, bei dem ich Brigitte kennen lernte: Egal, wie schief die Wand zunächst verputzt oder die Fliesen verlegt sind – sie begutachtet, lobt das Geschaffte, korrigiert und hilft. Und selbst bei kleinen Unfällen bleibt sie ruhig.
Mitte der 80er Jahre zieht Brigitte in eine Frauen-WG aufs Land, im Kreis Euskirchen. Auch hier wird sie wieder aktiv. Sie übernimmt einen Frauengesprächskreis an der VHS in Euskirchen und unterstützt die Frauen bei der Idee, einen Frauentreff namens Efeu e.V. zu gründen. Dieser Verein war die Grundlage für den Verein „Frauen helfen Frauen“ im Landkreis.
1986 gründet sie nebenberuflich zusammen mit Dr. Marie Sichtermann die Unternehmensberatung GELD & ROSEN GbR. 1988 erscheint das Buch: ‚Den Laden schmeissen‘ (Fischer-Verlag), das sie mit Marie und Barbara Sichtermann gemeinsam schreibt, das erste Handbuch für Gründerinnen in Deutschland.
Ihr umfassendes Wissen, die seltene Kombination von Finanzen, Buchhaltung, Zuschussrecht und Vereinsrecht bringt sie nun auch in die Arbeit für Frauenprojekte quer durch Deutschland ein. Sie berät Dutzende Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen, Notrufe und deren Landes- und Bundesverbände. Aber auch andere Unternehmen, quer durch die soziale Landschaft, schätzen ihren Rat. 2019 beendet sie diese Tätigkeit schließlich altersbedingt und löst die Firma auf.
Doch welche nun vermutet, ihr Leben verlaufe nun ruhiger, irrt: Als 2004 eine nahe Freundin stirbt, entscheidet sie sich aufgrund der Erfahrungen mit deren Sterbeprozess, eine Initiative zu gründen, die kranken oder sterbenden Frauen ihre eigenen Orte gibt oder auf bestehende Einrichtungen im Sinne der Bedürfnisse von Frauen Einfluss nimmt. Sie gründet zusammen mit 12 weiteren Frauen einen Verein, der diese Idee voranbringen soll und gibt ihm den Namen „Fraueninitiative 04 e.V.“. Brigitte ist von Beginn an im Vorstand.
Die „FI 04“ setzt auf ehrenamtliches Engagement von Frauen. Bisher organisiert der Verein bundesweit Fachtagungen zum Thema Alter, Krankheit, Tod und Sterben. So vernetzt die Initiative bis heute Feministinnen, unter ihnen viele Lesben, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen.
Wenn es unter den vielen Facetten in Brigitte Siegels Persönlichkeit eine gibt, die alle um sie herum kennen, dann diese: „Ich gehörte immer zu den Anschieberinnen“, sagt sie selbst, „aber der Rest geschah dann stets mit den anderen Frauen zusammen. Eine Freundin formuliert es so: „Brigitte verkörpert für mich das Bild einer androgynen, selbstbewussten Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt – einen Typus, den es nicht allzu oft gibt. Breitschultrig, eher zupackend als theoretisierend. Eine Emanze im besten Sinne. Wunderbar!“
Brigitte Siegel hat es unzählige Male bewiesen: Die freiheitliche, besonders auch berufliche Entwicklung von Mädchen und Frauen ist ihr Herzensanliegen und prägt ihren Lebensweg in außergewöhnlicher Weise. Wunderbar ist dabei auch ihr Humor. Trocken, prägnant und nicht selten selbstironisch trifft sie ins Schwarze – und so manchen Nerv: „Es geht mir letztlich um die Freiheit jedes einzelnen Menschen – natürlich auch die der Männer. Aber ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern.“
Autorin: Isabella Stock