2016 wurde ich an die Universität zu Köln auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte berufen. Dort lehre ich europäische Geschichte vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Dabei untersuche ich das Leben und Überleben im Krieg und in Nachkriegszeiten und widme mich Fragen der Geschlechterbeziehungen. Besonders fasziniert mich die spannende Geschichte von Kölner Frauen in der Weimarer Republik.
Damals hatte die Frauenbewegung nach langen Kämpfen die Zulassung von Mädchen zu Abitur und Studium erreicht. Als die Kölner Universität 1919 ihre Pforten öffneten, waren Studentinnen selbstverständlich mit dabei. Doch schon mit der Weltwirtschaftskrise wurde ihre Situation erneut prekär, und auch in der Bundesrepublik war ein Studium für junge Frauen noch lange keine Selbstverständlichkeit, von akademischen Positionen ganz zu schweigen. Das galt erst recht für Arbeitertöchter wie mich, die, so die Annahme, ohnehin heiraten würden. Mein großes Glück war, dass ich in frühen 1970er Jahren in die Schule kam, als die sozialdemokratische Koalition gerade eine Bildungsoffensive ins Leben gerufen hatte und auch die Defizite der Frauenbildung in den Fokus rückten. Nun kamen auch immer mehr Lehrerinnen und Lehrer an die Schulen, die als Teil der Emanzipationsbewegung der 1960er Jahre Bildung als Voraussetzung für Gesellschaftsveränderungen begriffen. Insbesondere zwei meiner Lehrerinnen habe ich viel zu verdanken. Sie bestärkten mich nicht nur darin, dass die Lust am Lernen kein unnützer Zeitvertreib war, sondern unterstützten mich in vielerlei Hinsicht, so dass ich 1984 das Abitur machen konnte. Und vor allem zeigten sie mir Wege zu jener wirtschaftlichen Autonomie, die für die Generation meiner Mutter und Großmutter noch undenkbar gewesen war.
Kein Wunder also, dass ich ihrem Beispiel folgen und Lehrerin werden wollte. Ich hatte immer schon alles gelesen, was mir in die Finger kam. Politik, Philosophie, Kulturwissenschaft, Geschichte, die Frage, wie Gesellschaften und ihre wirtschaftlichen Grundlagen funktionieren – alles, was diese wunderbare neue Welt der Universität zu bieten hatte, sog ich auf wie ein Schwamm. Selbst dem Großen Latinum, das ich nachzuholen hatte, ließ sich dank eines inspirierenden Dozenten und dem wunderbaren Tübinger Stiftsgarten, in dem ich die Sommer zum Lernen verbrachte, etwas abgewinnen. Politisch war ich in der Fachschaft und bei Greenpeace aktiv, organisierte ein Festival gegen Atombombentests im Pazifik mit und demonstrierte gegen Krieg, Aufrüstung und Umweltverschmutzung. An der Uni elektrisierten mich die Seminare, die von jungen Assistentinnen zur Frauen- und Geschlechterforschung angeboten wurden. Hier fand ich mich viel eher wieder als in den Lehrbüchern, in denen zwar von Strukturen und politischen Bewegungen, nur selten jedoch von Frauen die Rede war.
Finanziell waren die Zeiten schwierig. Ich musste mein Studium in weiten Teilen selbst verdienen und arbeitete zunächst halbtags als Sekretärin, dann als Stadt- und Museumsführerin, Journalistin und Hilfskraft an verschiedenen Universitätsinstituten. An ein Auslandssemester war nicht zu denken. Das billige Dachzimmer, schwer heizbar und völlig schräg, hätte ich danach nicht wieder bekommen, und auch auf dem Arbeitsmarkt war die Konkurrenz groß. Inzwischen schrieb man die 90er. Nach dem Ende der DDR stieg die Arbeitslosigkeit ebenso wie die Wohnungsnot, die Geburtenzahlen waren rückläufig, und statt Bildungsexpansion machte längst das hässliche Wort von der „Akademikerschwemme“ die Runde. Lehrkräfte wurden über Jahrzehnte nicht eingestellt.
Umso dankbarer war ich für das Angebot meines Betreuers, meine Abschlussarbeit über den „Bund zur Bekämpfung der Frauenemanzipation“ – so etwas gab es tatsächlich – mit Hilfe eines Stipendiums zu einer breiter angelegten Dissertation über Antifeminismus im Kaiserreich und der frühen Weimarer Republik auszubauen. An seinem Lehrstuhl hatten auch Frauen eine Chance – das war so ungewöhnlich, dass man damals Preise dafür verlieh. Im „Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung“ traf ich Gleichgesinnte, die mir zeigten, dass es möglich war, sich in der Männerdomäne Universität zu etablieren. Leicht war das nicht, schon gar nicht als alleinerziehende Mutter ohne bildungsbürgerliche Ressourcen und ausreichende Kinderbetreuungsmöglichkeiten. Doch bei allen Schwierigkeiten habe ich in- und außerhalb der Universität vielfältige Hilfe und Förderung erfahren, und die Freiheit, forschen, schreiben und lehren zu können, schien mir jede Mühe wert.
Nun versuche ich also, als Hochschullehrerin Studierende für die Welt der Geschichte zu begeistern, die Unterstützung, die ich erlebt habe, weiterzugeben und zu zeigen, dass man mit Ausdauer, Mut und Disziplin auch bei ungünstigen Startbedingungen Lebensträume verwirklichen kann. Thematisch haben mich die Lebensverhältnisse der „kleinen Leute“, die Konstruktion von Geschlechterverhältnissen und Fragen nach Partizipation und Emanzipation nie losgelassen. Ich schreibe über die Zeit der Atlantischen Revolutionen, über Militär und Krieg, das Verhältnis von Nation, Politik und Geschlecht und die Geschichte von Körper und Sexualität. Zum 100jährigen Bestehen der neuen Kölner Universität habe ich zusammen mit Studierenden die Situation von Kölner Frauen und Lesben in der Weimarer Zeit erforscht. Es ist schade, dass sich bei der Geschichte der Zwischenkriegszeit alle Augen nur auf „Babylon Berlin“ richten. Köln ist in den Weimarer Jahren genauso spannend, und hier ist noch viel zu tun.
Ute Planert
Werke (Auswahl):
Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1996.
Als Herausgeberin:
Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt/Main 2000.
Alberts Töchter. Kölner Frauen zwischen Stadt, Universität und Republik, St. Ingbert 2019.
Aufsätze:
Körper, Sexualität und Geschlechterordnung, in: Benjamin Ziemann/Nadine Rossol (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021, S. 595-618.
Zwischen Stadt, Universität und Republik: Frauengeschichte(n) an der neuen Universität zu Köln, in: Köln und seine Universität seit 1919 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 107), Köln 2021, S. 51-60.
Girl und Gretchen, in: Zeit Geschichte 1(2020), S. 42-45.
Kölner Frauen zwischen Stadt, Universität und Republik. Eine Einführung, in: Ute Planert (Hg.), Alberts Töchter. Kölner Frauen zwischen Stadt, Universität und Republik, St. Ingbert 2019, S. 15-50.
Liberalismus und Antifeminismus in Europa, in: Angelika Schaser/Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Liberalismus und Emanzipation. Inklusions- und Exklusionsmechanismen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2010, S. 73-95.
Wie reformfähig war das Kaiserreich? Ein westeuropäischer Vergleich aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp (Hg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 165-184.
Von der Querelle des Femmes zum Bürgerrecht: Frauenbewegungen in Europa 1789-1945, in: Bea Lundt/Michael Salewski/Heiner Timmermann (Hg.), Frauen in Europa: Mythos und Realität, Münster 2005, S. 424-443.
Kulturkritik und Geschlechterverhältnis. Zur Krise der Geschlechterordnung zwischen Jahrhundertwende und „Drittem Reich“, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900-1933, München 2007, S. 191-214.
Mutter und Volk. Vom Antifeminismus zur völkischen Bewegung und zum Nationalsozialismus, in: Eva Schöck-Quinteros/Christiane Streubel (Hg.), „Ihrem Volk verantwortlich“. Frauen der politischen Rechten (1890-1933). Organisationen – Agitationen – Ideologien, Berlin 2007, S. 109-130.
Weise Zuchtwahl der Tüchtigen“ und die „Pflicht, gesund zu sein“: Rassenhygiene und Körperpolitik im frühen 20. Jahrhundert, in: Die Philosophin 13 (2002), H. 25, Schwerpunkt: Feministische Theorie, Bioethik und Biopolitik, S. 54-69.
Reaktionäre Modernisten? Zum Verhältnis von Antisemitismus und Antifeminismus in der völkischen Bewegung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 11 (2002), S. 31-51.
Zwischen Partizipation und Restriktion. Frauenemanzipation und nationales Paradigma von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, in: Dieter Langewiesche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation, München 2000, S. 387-428.
Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt/Main 2000, S. 15-65.
Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), H. 4, S. 539-576.
Weibliche Schmutzkonkurrenz und männliche Ehre. Geschlechterbilder als Machtfaktor der Interessenpolitik im Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband 1893-1918, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung 34 (1999), H. 3/4, S. 441-464.
Antifeminismus im Kaiserreich: Indikator einer Gesellschaft in Bewegung, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 93-116.
Im Zeichen von „Volk“ und „Nation“: Emanzipation durch Emanzipationsgegnerschaft?, in: „Frauen & Geschichte BadenWürttemberg“ (Hg.), Frauen und Nation, Tübingen 1996, S. 190-203.
Mathilde Weber in Tübingen: Eine „Wohlthäterin der Stadt“ zwischen Unterstützung und Disziplinierung, in: Helga Merkel (Hg.), Zwischen Ärgernis und Anerkennung. Mathilde Weber, 1829-1901, Tübingen 1993, S. 53-70.