Seinem Artikel über die Gründerin des heutigen Sozialdienstes katholischer Frauen., Marie Le Hanne Reichensperger, gab Ulrich Linnenberg die Überschrift: „Berufene, Pionierin, Lobbyistin, Macherin, Kommunikatorin – Wegbereiterin der Fürsorgearbeit in Deutschland“ (1).
Marie Le Hanne Reichensperger wurde am 8. November 1848 als drittes Kind von Clementine Reichensperger, geb. Simon und dem Politiker und Juristen August Reichensperger in Koblenz geboren. In diesem Jahr beriet August Reichensperger als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung über eine freiheitliche Verfassung und die Bildung eines deutschen Nationalstaats.
Mit der Berufung zum Kammergerichtspräsidenten kehrte die Familie Reichensperger 1849 nach Köln zurück. Marie wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf und wurde durch ihre Eltern schon früh politisch geprägt. Ihr Vater war von 1850 bis 1863 Mitglied im preußischen Abgeordnetenhaus und von 1871 bis 1884 Mitglied des Deutschen Reichstags und einer der Vorreiter des politischen Katholizismus. Doch nicht nur die Politik und die katholische Soziallehre bestimmten Marie Reichenspergers Sicht auf die Welt, sondern ebenso wichtig war das kulturelle Engagement ihrer Eltern und ihr Interesse für Architektur, Kunst und Literatur.
Weil Frauen ein Studium zu dieser Zeit noch verwehrt war, besuchte Marie Reichensperger Privatschulen und bis 1866 ein Klosterinternat in Brügge.
Nach ihrem Schulabschluss 1866 lebte sie bis zu ihrer Heirat im Jahr 1878 im weltoffenen Haus ihrer Familie. Nach ihrer Hochzeit mit dem preußischen Bergrevierbeamten und Bergrat Jakob Le Hanne zog das Paar zuerst nach Arnsberg und später nach Koblenz.
Im März 1889 verstarb Jakob Le Hanne unerwartet. Zurück blieb die hochschwangere Marie, die am 02. Juli 1889 durch einen Kaiserschnitt ihre Tochter zur Welt brachte. Als das Kind kurz nach der Geburt starb, versank Marie Le Hanne Reichensperger in tiefer Trauer, die ihr Leben anhalten, aber nicht dominieren sollte. So suchte sie nach einer sinnvollen Aufgabe und begann 1891 in Koblenz mit ihrem Engagement für Frauen und Kinder in Not.
Weil Frauen zu dieser Zeit von politischer und gesellschaftlicher Partizipation noch weitgehend ausgeschlossen waren, entstanden überall in Deutschland Frauenvereine, die sich für mehr Frauenrechte, Bildungschancen und gegen Frauenarmut engagierten.
Inspiriert von dieser Idee und getragen von der katholischen Soziallehre, baute Marie Reichensperger Angebote für Familien, für Mütter und ihre nichtehelichen Kinder sowie Ausbildungsprojekte für weibliche Jugendliche auf. Seit 1895 widmete sie sich zusätzlich der Betreuung weiblicher Strafgefangener und Haftentlassener.
1899 entschied sich Marie Le Hanne Reichensperger nach Köln zurückzukehren und ihre Arbeit hier fortzusetzen.
Zunächst engagierte sie sich im damaligen Frauengefängnis in der Schildergasse, später im neuen Klingelpütz, in Siegburg und in der damaligen Zwangsarbeitsanstalt in Brauweiler.
Inhaftiert wurden vor allem Frauen, die aus Armut der Prostitution nachgingen oder sich mit kleinen Eigentumsdelikten über Wasser hielten. Für eine Haftstrafe reichte es aber schon, als Bettlerin oder Trinkerin in der Öffentlichkeit aufzufallen und im gesellschaftlichen Gefüge als störend empfunden zu werden. Delinquenz resultierte aus Armut, erlittener Gewalt, gesellschaftlicher und familiärer Schutzlosigkeit, dem fehlenden Zugang von Mädchen und Frauen zu Bildung und Arbeit.
Vor diesem Hintergrund orientierte sich Marie Le Hanne Reichensperger neu und begann ihre präventive Arbeit auszubauen. Dazu nahm sie Kontakt zu Frauen auf, die in Koblenz, Düsseldorf oder Aachen ähnliche Angebote aufgebaut hatten. Besonders intensiv wurde der Austausch mit Agnes Neuhaus, die in Dortmund den „Verein zum Guten Hirten“ gegründet hatte. Beide Frauen trafen sich im August 1900 und riefen zum Jahreswechsel 1901/1902 den „Katholische Fürsorgeverein für Mädchen und Frauen“ ins Leben
Mit der Vereinsgründung war die Grundlage für den Aufbau weiterer Angebote in Köln geschaffen. Um die Not der zahlreichen unverheirateten Schwangeren und alleinerziehenden Mütter zu lindern, kaufte Marie Le Hanne Reichensperger, unterstützt durch Kardinal Fischer und die Mitglieder der Bürgergesellschaft von Köln,1863 das St. Josephs-Krankenhaus in Bayenthal und baute 1905 das Josefshaus als Mutter-Kind-Einrichtung auf. Im Josefshaus konnten die Mütter nicht nur leben, sondern in einer Wäscherei und Näherei arbeiten und Qualifikationen erwerben, während ihre Kinder versorgt und betreut wurden.
Später überließ Marie Le Hanne dem Verein ihr Elternhaus im Klapperhof 14, um hier die Jugendschutzstelle „Reichenspergerhaus“ und das Mädchenwohnheim „Haus Maria Schutz“ dauerhaft einzurichten.
Die Mitglieder des Vereins übernahmen Vormundschaften über Waisen und Kinder, deren Eltern ihren Pflichten nicht nachkommen konnten und engagierten sich für haftentlassene Jugendliche und Erwachsene, die sie ehrenamtlich im Rahmen der heute so genannten Bewährungshilfe betreuten. Beeindruckend sind die Zahlen: „1907 arbeiteten 21 „Vormünderinnen“ für 46 Mündel, im Jahr 1920 waren es 380 „Vormünderinnen“ für 752 Mündel“ (2).
Doch Marie Le Hanne Reichensperger war nicht nur praktisch karitativ tätig, sondern sorgte durch ihre Mitwirkung in Gremien und Ausschüssen für die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit. Ihre Mitstreiterin, Agnes Neuhaus, wurde nach dem 1. Weltkrieg Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und war von 1920 bis 1930 Abgeordnete der Zentrumspartei im Reichstag, wo sie für das 1924 verabschiedete Reichsjugendwohlfahrtsgesetz und die Jugendhilfe in freier, konfessioneller Trägerschaft stritt.
Marie Le Hanne Reichensperger starb am 02.10.1921 und wurde neben ihrem Mann und ihrem Kind in Koblenz bestattet. Für ihre Verdienste wurde sie mit dem päpstlichen Orden „Pro ecclesia et pontifice“, dem Frauenverdienstorden und dem Verdienstkreuz für Kriegshilfe ausgezeichnet. „Die Stadt Köln“, so Ulrich Linnenberg „hat ihr Schaffen bis heute nicht öffentlich gewürdigt“.
Anne Rossenbach, Monika Kleine
Quellen
Ulrich Linnenberg, Marie Le Hanne Reichensperger: Berufene, Pionierin, Lobbyistin, Macherin, Kommunikatorin – Wegbereiterin der Fürsorgearbeit in Deutschland, in: „Eigentum aktuell“, Hrsg. Kölner Haus- und Grundbesitzerverein, September 2023.
Zorn-Lingnau Gisela, Der Katholische Fürsorgeverein Köln im Spiegel der Zeitgeschichte 1899-1950, Köln 2011.
Irene Franken, Le Hanne, Marie, geb. Reichensperger. In: Ulrich S. Soénius, Jürgen Wilhelm (Hrsg.): Kölner Personen-Lexikon. Greven Verlag, Köln 2008, ISBN 978-3-7743-0400-0, S. 318.