Nun bin ich über 70 – und gebe immer noch keine Ruhe. Warum sollte ich auch. Es ist noch viel zu tun. Eins stand immer für mich fest: Ich werde als Rentnerin nicht anfangen zu töpfern. No go!
Genervt und aufgewühlt von den Ideen rechtsradikaler Meinungsmacher, doch einfach einen Großteil der Gesellschaft irgendwohin nach Afrika zu deportieren, habe ich kürzlich mein 1982 erschienenes Buch über die im Majdanek-Prozess angeklagten KZ-Aufseherinnen aktualisiert und neu herausgegeben. Als eine Mahnung davor, was schlimmstenfalls passieren kann, wenn Faschisten und Antisemiten, Menschenfeinde und großmäulige Hetzer an die Macht kommen.
Um vor ihnen zu warnen, saß ich fast zwei Jahrzehnte zunächst für die Nachrichtenagentur Reuters, dann den Stern, die Frankfurter Rundschau und den WDR in den letzten Prozessen gegen Altnazis. Habe die neuen Rechtsradikalen auf der Anklagebank beobachtet, die Anfang der 90er Jahre in Solingen, Hünxe und anderswo Brandsätze warfen. Und manchmal bin ich doch sehr verzagt, wenn ich sehe, dass all diese Aufklärungsarbeit nichts geholfen hat. Sie werden immer frecher, diese Nazis, immer dreister, immer selbstgefälliger. Deshalb heißt es weiterhin: Wachsam bleiben.
Als ich 1980 von Düsseldorf nach Köln zog, war ich überwältigt von dem prallen Leben. Ich wohnte Severinstraße 1, nicht weit weg vom Stollwerck. Und berichtete nun unentwegt über die Besetzer und Besetzerinnen, die aus dem ehemaligen Fabrikgelände bezahlbaren Wohnraum machen wollten. Es war ein unordentlicher, in viele Grüppchen unterteilter Haufen bestehend aus Anwälten und Obdachlosen, Kiffern und Neugierigen, Engagierten und Mitläufern. Und ich mit meinem Mikro immer mittenmang.
Das war eine aufregende, bewegende Zeit. So wie die Phase nach 1968, die ich zeitweise in Frankreich lebend dort mitbekam.
Wie streng wir damals waren. Wie gnadenlos. Mit uns selbst. Mit unseren Eltern. Mit den alten Strukturen, die wir unbedingt demolieren wollten. Was auch notwendig war. Und wohl nicht anders ging als hart, unnachgiebig. Außerdem waren wir genau das ja gewöhnt. Unsere Eltern waren so gewesen, streng, hart, unnachgiebig. Woher sollten wir irgendetwas Anderes kennen?
Unsere Mütter waren Hausfrauen (jedenfalls die meisten), hatten sich nicht getraut, ihre Männer zu verlassen – egal wie trostlos die Beziehung war. Wo sollten sie auch hin? Geschiedenen Frauen stand kaum etwas zu an Geld. Da konnten sie sich gleich verabschieden von ihrem gesellschaftlichen Status.
Genau dieses Elend wollten wir, ihre Töchter, nicht wiederholen. Lasen Betty Friedans Buch über den „Weiblichkeitswahn“, der die traditionelle Rolle von Müttern und Hausfrauen vehement infrage stellte. Konfrontierten unsere Mütter damit, die Staubwischen, Wäschewaschen, Putzen und Kochen zu ihrem Lebensinhalt gemacht hatten. Und versuchten uns in der neu gefundenen Freiheit.
Ansonsten machten wir genau das, was die vorherige Generation sich nie getraut hätte. Wir jungen Frauen, wir waren die Kinder der Pille.
Ich habe es genossen!
Über unserer neuen Freiheit schwebte der § 218, der Abtreibungen verbot. Also blickte man in die liberaleren Nachbarländer. Ich hatte neben meinem Telefon eine Liste von Abtreibungskliniken in Holland und London liegen. Mich riefen viele Frauen an, verzweifelt, ratlos. Plötzlich war unser munteres Treiben, unsere neue Freiheit an ihre Grenzen gestoßen.
Was das emotional mit den Frauen so machte, konnte ich mir damals nicht vorstellen. So wie mir auch die Fantasie fehlte für so etwas Biederes wie eine Kleinfamilie. Nein, ich musste in einer WG, einer Wohngemeinschaft, leben. Selbstverständlich. Was Anderes kam nicht infrage. Auch wenn das nervig war. Es gehörte sich einfach so in meinen emanzipatorischen Kreisen.
Zu der Zeit arbeitete ich schon als Journalistin. Hatte einen anspruchsvollen Job beim Stern. Und wenn ich dann abends hungrig nach Hause kam und ausgerechnet d e r Mitbewohner Kochdienst hatte, der zuerst einmal gemütlich die Kartoffeln aufsetzte, dann in Ruhe das Gemüse putzte, um sich zu guter Letzt dem Braten zuzuwenden – dann packte mich schonmal Verzweiflung und Hunger am Schopf. Stunden später dann saßen wir alle, plaudernd und wunderbar vereint und aßen die zerkochten Zutaten, das längst nicht gare Fleisch.
Ich möchte diese Zeit nicht missen, bin froh, dass es sie, dass es uns gab. Gar nicht auszudenken, was ohne uns aus diesem Land geworden wäre. Aber manchmal muss ich dann doch schmunzeln. Darüber, wie mich mein damaliger Freund abholte, abends, nach den Seminaren über Wilhelm Reichs sexuelle Revolution. Und die militanteren Mitstreiterinnen mich missbilligend anblickten. Ein Kerl, der draußen auf Dich wartet? Na, so richtig befreit von alten Zwängen hast Du Dich ja noch nicht!
Neee, hatte ich damals nicht, habe ich bis heute nicht.
Und so lebe ich denn weiter meinen meist wunderbaren Alltag. Schreibe noch. Kümmere mich um Geflüchtete. Liebe meine drei Enkelkinder, meine Familie, meine Freundinnen. All das, was übrig geblieben ist aus einem vollen Leben.
Nein, ich denke nicht daran, jetzt im Alter zu töpfern. Warum auch. Es bleibt noch viel zu tun.
Ingrid Müller-Münch
Buchveröffentlichungen:
Die Frauen von Majdanek – Vom zerstörten Leben der Opfer und der Mörderinnen“, rororo,
„Als das Wünschen noch geholfen hat“, rororo
„Biedermänner und Brandstifter – Fremdenfeindlichkeit vor Gericht“, Dietzverlag Bonn,
„Zwei Welten“, Emons-Verlag Köln
„Die geprügelte Generation“, Klett-Cotta, TB-Ausgabe bei Piper
„Sprengsatz unterm Küchentisch“, Klett-Cotta.
„Polizeigewalt gegenüber Sinti und Roma“, Kommission Antiziganismus
„Die Täterinnen von Majdanek. KZ-Aufseherinnen vor Gericht“, Dittrich Verlag
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