Ich wurde als Irene Charlotte und Älteste von drei Geschwistern geboren. Meine gebildete und zuvor berufstätige Mutter wurde mit der Ehe hausfrauisiert, mein Vater später Amtsleiter. Ich besuchte ein (Knaben-)Gymnasium mit konservativem Curriculum und nur einer einzigen Lehrerin – die alle liebten. Ich lernte vier Fremdsprachen, blieb aber ohne jegliche gesellschaftspolitische Bildung. Während auf Dutschke ein Mordanschlag verübt wurde, paukte ich für Klausuren. Intransparenz zur Familiengeschichte bewegte mich später zur Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Psychologie.
Nach dem Abitur 1968 in Süddeutschland zog ich umgehend nach Köln. Bis dahin vom Weltgeschehen abgeschirmt, geriet ich in die Studentenbewegung und lernte endlich einen umfassenderen Blick auf die Welt kennen. Ich stürzte mich in die Lektüre der „Klassiker“, hatte ich doch so viel nachzuholen. Das Studium auf Lehramt „rahmte“ ich stets mit unserer „politischen Arbeit“. Alle Inhalte mussten antikapitalistisch interpretiert werden, wollten wir doch als Lehrende eine künftige Revolution voranbringen und nicht den Herrschenden dienen. Ich erinnere mich an die „Sprengung“ (!) eines Seminars eines liberalen Professors, wo ich großmäulig das Pult in Besitz nahm, da nun eine Diskussion über den Vietnamkrieg absolute Priorität habe.
1970 gründeten wir zu vier Frauen eine Wohngemeinschaft. Das war damals noch ungewöhnlich und nicht ausdrücklich feministisch motiviert. Wir genossen das bunte Leben im quirligen Köln, hatten ständig Besuch, diskutierten und feierten durch die Nacht. Es war eine schöne Zeit, nicht ohne Konflikte, aber voller Liebe und Solidarität.
Innerhalb der Linken blieb ich parteilos (bis heute). Als der SDS sich spaltete in die große Mehrheit, die in der moskau-treuen DKP ihre Wahrheit suchte, und die sektiererischen K-Gruppen, schloss ich mich einer „undogmatischen“ Gruppe an, die sich „Arbeiterkampf“ nannte. Die Geschlechterfrage hielt ich damals für einen Nebenwiderspruch, wie meine Genossen. Dachte ich doch, meine fortschreitende individuelle Emanzipation sei völlig ausreichend, um patriarchalen Zumutungen aller Art forsch zu begegnen. „Rein in die Betriebe“ – ein Imperativ des „Arbeiterkampf“ (!) – gestaltete sich 1973 als die größte Herausforderung meines gesamten Erwerbslebens. Im Duftimperium 4711 am Fließband lernte ich, dass die Geschlechterfrage existenziell und Feminismus eine Frage der Intelligenz ist. Nur dreieinhalb Monate hielt ich diese unglaublich anstrengende Arbeit durch.
Mit der „Frauengruppe Ehrenfeld“ gründeten wir in dieser Zeit das Frauenzentrum in der Geisselstraße, mit dem Ziel, nicht-studentische, „normale“ Frauen anzusprechen, zu beraten und zu politisieren. Das Projekt hielt sich etwa 10 Jahre. Behutsam näherte ich mich der autonomen Frauenbewegung, deren anfängliche Larmoyanz ich total ablehnte. So blieb ich auf Abstand und verstand mich weiterhin vornehmlich als Linke. Aber ich liebte die Lebendigkeit durchtanzter Nächte im Frauenzentrum in der Eifelstraße.
Nach dem Zweiten Staatsexamen arbeitete ich 40 Jahre lang hauptamtlich in einem Kölner Weiterbildungskolleg. Ich unterrichtete junge Erwachsene in Deutsch, Geschichte und Psychologie. Dort lernte ich die Realität prekärer Lebensverhältnisse und Migrationserfahrungen kennen und war beglückt darüber, vielen Menschen zu einem (etwas) besseren Leben verhelfen zu können. Die letzten 15 Jahre leitete ich Frauenlehrgänge, gemeinsam mit Sozialpädagoginnen, die sich mit mir um die scheinbar privaten Fragen kümmerten, an denen ein höherer Schulabschluss (FOR, FHR) nicht scheitern sollte. Im Rückblick denke ich, dass ich im Beruf gesellschaftlich mehr bewegt habe als in der gesamten aktivistischen Zeit davor und danach. Nebenbei entwickelte ich Unterrichtsreihen und war im Sozialistischen Lehrer-und Sozialarbeiterzentrum – orientiert am undogmatischen Sozialistischen Büro – aktiv.
1985 wurde ich schwanger – mit einem emanzipierten Partner, Architekt und Maler, den ich 15 Jahre später heiratete.
1986 gründeten wir Historikerinnen den Kölner Frauengeschichtsverein (1), das „Gedächtnis der Frauen Kölns“ (Oberbürgermeisterin Reker) und machten uns an die Erforschung, Dokumentation, Archivierung und Vermittlung von Frauengeschichte; unermüdlich, ehrenamtlich – lange in „unterirdischen“ räumlichen Gegebenheiten, ein Alternativprojekt, ein Projekt von Frauen, ohne Geld.
Mein Kind wuchs in unserem Nachbarschaftswohnprojekt auf. Wir hatten Kindergruppen, was die Berufstätigkeit aller Eltern gewährleistete. Jen galt – als Säugling im Schaufenster des Frauenbuchladens im Korb abgestellt – als „jüngste Feministin Kölns“. Heute ist sie queerfeministische Übersetzerin im Berliner Raum, und wir streiten ab und zu – respektvoll – über die verschiedenen politischen Ansätze.
In den 90er Jahren nahmen wir im Haus mehrere Geflüchtete aus Bosnien und eine in Köln von Nazis verfolgte Rom*nja-Familie auf, bis deren Leben wieder andere Wege einschlugen. Es war mir wichtig, unseren privilegierten Raum zu öffnen und zu teilen.
Nach dem Ende meiner beruflichen Arbeit Anfang 2015 (im „Freistand“) engagierte ich mich weiter: Ich entwickelte meine erste Stadtführung „Schriftstellerinnen in Köln“, ließ mich in den Vorstand meines Lieblingsvereins (Kölner Frauengeschichtsverein) wählen, erarbeitete Vorträge über Mathilde Franziska Anneke und 1848, über die Frauen um Karl Marx, über Rosa Luxemburg (2), über Frauen im NS und in der Nachkriegszeit (3), über unsere alte Neue Frauenbewegung (4). 2018 führte ich mit Genossen von damals zwölf Veranstaltungen zur Erinnerung an 1968 in Köln durch – mit der Distanz eines halben Jahrhunderts und der Loyalität, die dieser Erweckungserfahrung gebührt.
Im neuen Quartier des Kölner Frauengeschichtsvereins begann ich 2022, uns im Stadtteil einzuschreiben: Meine Führung durch Zollstock ist inzwischen neun Mal unter beachtlicher Beteiligung gelaufen. Wir sind – als einziges Frauenprojekt – Mitglied im (1908 gegründeten) Allgemeinen Bürgerverein Zollstock. Ich pflege auch Kontakte zur Bezirksvertretung und zu den Kirchengemeinden.
Außerdem arbeite ich seit 2022 am Online-Projekt „Kölner Frauen*Stadtplan“ mit, für den ich Texte lektoriere und einzelne auch selbst verfasse.
Ich fühle mich wohl in der Stadtgesellschaft und hoffe, mit meinen 74 Jahren noch eine Weile aktiv bleiben zu können.
Autorin: Ina Hoerner-Theodor