Glenda Obermuller hat deutsche Wurzeln, wie der Nachname andeutet. Ihre Vorfahren väterlicherseits kamen aus dem Schwarzwald. Sie wanderten im 19. Jahrhundert nach Guayana/ Südamerika aus, bekamen Kinder mit afro-guayanischen Frauen und bauten sich Existenzen auf als Plantagenbesitzer. Obermullers Vater heiratete eine 20 Jahre jüngere indigene Frau. Zusammen hatten sie 11 Kinder, zusätzlich drei Kinder aus früheren Beziehungen.

Glenda Obermuller bei der „Stimmen Afrikas“-Lesung
© Herby Sachs

Der Vater war ein sehr politischer Mensch. Als Aktivist konnte er seine Zuhörer*innen mit packenden Reden in den Bann ziehen.  Er war direkt und ehrlich, sagte seine Meinung auch, wenn das ungünstige Folgen hatte. 1992 gab es zum ersten Mal sog. ‚freie Wahlen‘ in Guayana, und der Präsidentschaftskandidat kam zu einer Rede auf den Marktplatz des Ortes. Obermuller beobachtete, wie ihr Vater auf die Bühne stieg und sagte: „Ich möchte den Präsidenten etwas fragen.“ Der Präsident antwortete: „Herr Obermuller hat eine Frage.“ Glenda war erstaunt und stolz, dass der Präsident ihren Vater mit Namen kannte. Seine Frage kam allerdings nicht so gut an. Sie zielte auf die Korruption im Lande ab und auf die Pläne des Präsidenten, diese abzubauen. So mutig und visionär Obermullers Vater auf der einen Seite war, so schwach war er im Umgang mit Alkohol, was für ihn und seine Familie zunehmend zu einem Problem wurde.

Glendas Mutter war genau das Gegenteil. Sie war eine warme und herzliche Person. Obermuller zeigt sich heute noch erstaunt, wie die Mutter die vielen Kinder, den großen Haushalt und den fordernden Ehemann bewältigte. Mit ihrer ruhigen Ausstrahlung und ihrem tiefen Glauben trug sie Frieden und Hoffnung in die Familie. Sie gab Glenda allerdings mit auf den Weg, dass sie eher dem Vater ähnele: Seine Furchtlosigkeit, Mächtigen die Wahrheit zu sagen, seine Integrität und sein starker Wunsch, etwas zu bewirken. Wichtig war auch, dass die Mutter ihren Kindern den Stolz mitgab, eine indigene Frau zu sein.

Das erste Black Sister*hood NRW Treffen 2020
© Glenda Obermuller

Glenda gehörte zu den jüngeren Kindern in der Geschwisterreihe. Zuhause wurde Kreol gesprochen, die Amtssprache in Guayana ist Englisch. Die Eltern legten großen Wert auf Bildung. Da Glenda als Kind Probleme hatte zu sprechen – sie neigte zum Stottern – verlegte sie sich umso mehr auf das Lesen. Sie las alles, was ihr zwischen die Finger kam: die Zeitung, die wöchentlich kam, jedes Buch im Haus und schließlich die Bibel, durch die sie nicht nur lesen lernte, sondern auch Gottvertrauen aufbaute.

Als junge Frau lernte sie einen Deutschen kennen und heiratete ihn. Deutschland war in der Familie Obermuller wegen der Vorfahren positiv besetzt, so dass sie einverstanden war, ihrem Mann nach Deutschland zu folgen. Sie zog zu ihm in ein Haus im Bergischen Land, bekam ein Kind – und war einsam, ein Gefühl, das sie bis dato noch nie kennengelernt hatte. Sie kannte niemanden und sprach kein Wort Deutsch, die Ehe zerbrach. Mit Hilfe einer sozial engagierten pensionierten Lehrerin konnte Obermuller sich aus der zerrütteten Ehe lösen und in eine eigene Wohnung ziehen. In der Kita fand sie fachliche Unterstützung bei der Betreuung ihres frühkindlichen autistischen Sohnes und hatte durch die Kinderbetreuung endlich auch die Möglichkeit, einen Sprachkurs zu besuchen.

Übergabe des Empfehlungskatalogs des (Post)kolonialen Expert*innengremiums an die Oberbürgermeisterin 2024
© Glenda Obermuller

2008 wurde Barack Obama Präsident der Vereinigten Staaten, der erste Schwarze Präsident! Dieses Ereignis wurde in den USA wie in Europa als Meilenstein auf dem Weg der Gleichberechtigung gefeiert. Die Aufbruchstimmung in Deutschland beflügelte Obermuller. Sie intensivierte ihre Sprachkurse, machte 2010 ihr Fachabitur und erwarb 2011 die Hochschulreife. Endlich konnte sie studieren, wie hart auch immer der Weg dahin war. Sie ging an Wochenenden putzen, um sich die Zugfahrkarten zur Volkshochschule in Köln leisten zu können. Als Studienfach wählte sie Sonderpädagogik, um als Sonderschullehrerin zu arbeiten. Später stellte sie fest, dass die intensive Betreuung ihres Sohnes sie bereits an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit brachte, und dass sie es nicht schaffen würde, diese Arbeit auch noch beruflich durchzuführen. Demgegenüber war das Studienfach Literaturwissenschaft für sie aufbauend und stärkend, deckte es sich doch mit ihrer Leseleidenschaft.

Jetzt kamen die Fähigkeiten, die sie bei ihrem Vater kennengelernt hatte, zum Tragen: sich politisch für die Communitiy einzusetzen, Netze zu knüpfen und eine Graswurzelbewegung in Gang zu bringen. 2017 war sie Mitbegründerin der afro-diasporischen Selbstorganisation „Sonnenblumen Community Development Group e.V.“ in Köln. Dort schlossen Schwarze Menschen sich zusammen und tauschten aus, was sie als Schwarze Menschen brauchten. 2018 mieteten sie Räume in der Altstadt, die für die Schwarze Community zu einem sicheren Ort wurden. Von hier aus organisierten sie Fortbildungen, Workshops und Demos.

Schwarze Frauen Lesung mit Prof. Dr. Natasha A. Kelly – „Schwarz Deutsch Weiblich“ 2023 in der TWM-Bibliothek
© Glenda Obermuller

Zu den bemerkenswerten Projekten, die Glenda mitbegründet hat, gehören die Initiative N-Wort Stoppen“ (2019), der PROUD Black Owned Pop-Up Market (seit 2022), die Organisation des Black History Month Programm (seit 2020) und zahlreiche Empowerment-Projekte, insbesondere für Schwarze Frauen* und Schwarze Geflüchtete Menschen. Zudem wurde Glenda von der Kölner Oberbürgermeisterin in die (post)koloniale Expertenkommission berufen, deren Aufgabe es war, die Stadt Köln im Umgang mit ihrem kolonialen Erbe zu beraten.

Das Video von dem gewaltsamen Tod von Georg Floyd durch einen US-amerikanischen Polizisten löste 2020 weltweit Empörung aus. Die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung erhielt dadurch noch einmal entscheidenden Auftrieb. Auch in Köln kamen am 6. und 7. Juni 2020 mehr als 25.000 Menschen zu Großdemonstrationen zusammen.

In der Folge versammelten sich die Schwarze Community auf der Merheimer Heide, um die Demo zu evaluieren und nächste Schritte zu vereinbaren. Eine Woche später richteten sie auf den Poller Wiesen verschiedene Task-Forces ein: Black Business, Gesundheit, Bildung, Politics, Demo, etc. In der Task-Force Bildung, entstand die Idee einer Schwarzen Bibliothek.

Am 19.2.2022, mitten im Black History Month, wurde das Vorhaben realisiert und die erste Schwarze Bibliothek NRWs, die Theodor-Wonja-Michael-Bibliothek, unter dem Dach der Sonnenblumen Community Development Group in der Kölner Altstadt eröffnet. Obermuller war Mitbegründerin. 2024 zog die Bibliothek um nach Köln-Poll, wo sie nun jeden Sonntag für Besucher*innen und unter der Woche für Gruppen geöffnet ist. Für die Community bedeutet sie einen Safe-Space, für alle Kölner*innen und darüber hinaus ist sie ein Dekolonialer- und Begegnungsort. Hier können die Besucher*innen in aller Ruhe Schwarze Weltliteratur schmökern. Zudem gibt es Veranstaltungen, Workshops und Seminare für Studierende.

Beim Community Meeting, Poller Wiesen, Juni 2020, Glenda Obermuller und Mitgründer der Bibliothek Dr. Pedro Mbavidi
© Glenda Obermuller

Im Juni 2020initiierte Obermuller zusammen mit Melane Nkounkolo eine WhatsApp-Gruppe mit inzwischen 600 Schwarzen Frauen, die ‚Black Sister*hood-Gruppe NRW‘. Hier kann jede ihre Fragen und Probleme einbringen, und andere können helfen und Lösungen vorschlagen. Die Frauen haben Hilfe-Adressen gepostet, Listen von Schwarzen Ärzt*innen und Therapeut*innen angelegt und Fundraising-Kampagnen für Mitglieder der Community in Not gestartet.

So engagiert ihr Leben als Aktivistin und pflegende Mutter verläuft, so unsicher sind ihre Einkünfte. Vorträge, Workshops, Beratungen und Publikationen sichern ihr ein bescheidenes Auskommen für sich und ihren Sohn. Eine Festanstellung wäre mit den Anforderungen an häusliche Pflege (Pflegegrad 5) kaum vereinbar. Dabei ist ihre Arbeit nicht nur für sie selbst befriedigend, sondern auch für die Community ein Geschenk. Aber auch für die Kölner Stadtgesellschaft und für das Land NRW leistet Obermuller einen einzigartigen Beitrag. Denn durch ihre Arbeit in öffentlichen Einrichtungen trägt sie dazu bei, strukturellen Rassismus abzubauen und in Köln etwas mehr Sicherheit und Gleichheit für Schwarze Menschen zu schaffen. Das bedeutet auch mehr Akzeptanz für Minderheiten jeder Art.

Zwei Eigenschaften zeichnen Glenda Obermuller aus: ihre spontane Hilfsbereitschaft und ihre Fähigkeit zur Vernetzung. Obermuller erinnert sich voll Dankbarkeit an all die Personen, die ihr in schwierigen Lebensphasen geholfen haben. Das sind Vorbilder für sie und gleichzeitig eine Verpflichtung, Hilfe unmittelbar und konkret zurückgeben, wann immer es ihr möglich ist. Sie knüpft mit großer Leichtigkeit Kontakte und stellt Verbindungen her. So viele Fäden laufen bei ihr zusammen und werden wieder ausgeworfen, um weitere Menschen einzubinden – der Knotenpunkt in einer großen Gemeinschaft in Köln und NRW.

*Schwarze Menschen = gewählte Selbstbezeichnung , die alle Menschen anspricht, die selbst einern afrikanischen oder einen afro-diasporischen (z.B. afro-karibisch, afro-amerikanisch, afro-deutsch) Hintergrund haben.

Maria Beckermann