Das politische Engagement wurde mir durch meinen Vater quasi in die Wiege gelegt. Ich kann mich an Demonstrationen in Köln auf der Domplatte erinnern, zu denen mein Vater mich mitnahm. Und daran, wie ich auf den Schultern meines Vaters sitzend „Ho hi internationale Solidarität“ rief. Es waren Demonstrationen gegen die Unterdrückung der Kurden und der Arbeiter, gegen Faschismus und Kapitalismus. Mein Vater war Kommunist, Kurde und Atheist. Er starb, als ich 9 war, und damit endete auch mein kindlicher politischer Aktivismus. Aber meine widerständige Haltung gegen Ungerechtigkeit war geweckt und ich engagierte mich fortan in unterschiedlichen Gruppen gegen Unrecht und Unterdrückung.
Ich kam 1965 in der Türkei auf die Welt. Meine Eltern kamen als Gastarbeiter nach Deutschland und ließen uns Kinder zunächst bei Tante und Großmutter zurück. 1972 holten sie meinen Bruder und mich nach. In der Türkei hatte ich bereits die erste Klasse besucht, konnte schon Lesen, Schreiben und Rechnen – sprach aber kein Wort Deutsch. Dank meines Grundschullehrers Klaus Hederich und der Familie Iwers, die mich stärkten und unterstützten, konnte ich aufs Gymnasium gehen – damals sehr außergewöhnlich für ein „Ausländerkind“. In meiner Schulzeit lernte ich verschiedene Welten kennen. Meine jung verwitwete Mutter arbeitete in der Fabrik, zuerst in zwei Schichten, später sogar in drei Schichten, und versorgte meinen Bruder und mich. Sie ermöglichte es uns, zu studieren – auch außergewöhnlich für Kinder aus der „Gast“Arbeiterklasse damals. Wir führten ein materiell bescheidenes Leben, denn meine Mutter verdiente trotz Vollzeitarbeit und Überstunden nicht viel. Trotz ihres harten, anstrengenden Lebens war meine Mutter zufrieden, denn sie führte ein selbstbestimmtes, unabhängiges Leben – was ihr sehr wichtig war. Das Leben meiner engsten Schulfreunde, bei denen ich oft zu Gast war, konnte nicht unterschiedlicher sein: sie lebten in schönen Einfamilienhäusern, hatten eigene Zimmer, viel Spielzeug, viel Kleidung, gebildete Eltern, Regale voller Bücher, Musikinstrumente und Mütter, die nicht arbeiteten.
In einer Projektwoche – es müsste 1979 gewesen sein, als ich in der 7. Klasse war – ging ich in eine Projektgruppe, in der wir recherchieren sollten, ob die Großeltern meiner Mitschülerinnen und Mitschüler wussten, was aus ihren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn geworden war. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, wie wir das Thema drittes Reich und Holocaust behandelt hatten, aber ich wusste, dass Jüdinnen und Juden in Vernichtungslager deportiert worden waren und dass sich Nachbarinnen und Nachbarn an ihrem Hab und Gut bereichert hatten. Das Ergebnis unserer Recherchen lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Wir haben nichts gewusst. Ich war aufgewühlt und wütend. Das konnte doch nicht sein! Die Projektwoche ging zu Ende, mein Interesse am Holocaust und daran, wie eine ganze Gesellschaft so brutal werden konnte, blieb.
Meine Zeit an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf war sehr aktivistisch. Ich studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete nebenher in einem städtischen Jugendzentrum, unterrichtete Deutsch bei der AWO, schrieb Artikel für den Lokalteil der NRZ, war in einer kurdischen Folkloretanzgruppe, ging zu allen Demos für Frieden, gegen Faschismus, gegen Rechtsextremismus, gegen Rassismus, für die Rechte der Kurden, für die multikulturelle Gesellschaft, für die Umwelt. In meiner Tasche hatte ich immer Flugblätter von allen möglichen Aktionen und Demos, die ich meinen Kommilitonen gab mit der Aufforderung, doch hinzugehen und sich zu engagieren. Es war halt die Zeit vor Internet und Social Media und irgendwie mussten die Informationen ja an die Leute kommen.
Damals begann ich Veranstaltungen zu moderieren, auf der Bühne vor Publikum zu übersetzen und über die Kurdenfrage zu referieren. Ich habe als freie Journalistin beim Kölner Stadtanzeiger und beim WDR gearbeitet und als selbständige Dolmetscherin, Übersetzerin und Moderatorin. Aktuell leite ich ein Projekt, bei dem Migrantinnen auf dem Weg in eine sozialversicherungspflichtige Arbeit begleitet werden.
Ich war lange im Bundesvorstand des Verbands der Vereine aus Kurdistan und Mitglied der Grünen, denn sie engagierten sich für Umwelt, Frieden, Menschenrechte und Frauenrechte, setzten sich gegen Menschenrechtsverletzungen und für die Rechte des kurdischen Volkes ein, für eine multikulturelle Gesellschaft und für vieles mehr, womit ich mich identifizieren konnte. Ich wurde u.a. Bezirksvertreterin und Stadträtin. Nach vielen Jahren des Engagements verließ ich sowohl KOMKAR als auch die Grünen aus verschiedenen politischen Gründen.
Im Laufe der Jahre erfuhr ich mehr über meine eigene Geschichte. Ich stamme aus Dersim, wo 1937/38 ein Völkermord stattfand. In derselben Region wurden 1915 Armenier Opfer eines Völkermordes. Die Auseinandersetzung mit Völkermorden, Pogromen, Deportationen, Vertreibung, Unterdrückung zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Daher engagiere ich mich in der Initiative ‚Völkermord erinnern‘, bin im Vorstand des Vereins EL-DE-Haus, dem Förderverein des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, und im Vorstand der Bilz-Stiftung. Im Hintergrund unterstütze ich viele NGOs, die sich für Menschenrechte, Geflüchtete und Demokratie einsetzen, mit meinem Wissen und meinen Netzwerken. Ich moderiere und dolmetsche bei Lesungen und kulturpolitischen Veranstaltungen, was mir sehr viel Spaß macht.
Meine Vorbilder: All meine älteren Weggefährtinnen und Weggefährten in den vielen wertvollen Vereinen und Initiativen insbesondere in Köln, die sich ein Leben lang für die Werte eingesetzt haben, die mir wichtig sind. Sie leben mir vor, wie wichtig das Engagement eines jeden ist, dass wir gemeinsam stark sind und viel bewirken können.
DANKE, dass ich meine Geschichte auf dieser Plattform erzählen durfte.
Ciler Firtina