Da ich in vielen Bereichen aktiv war, konzentriere ich mich in dieser Biografie auf frauenpolitische Aspekte.
Meine frühesten prägenden Eindrücke von Frauen und Freiheit stammen aus meinem Geburtsort Halfeti. Damals trugen viele Frauen noch den Tschador – das galt als Ausdruck von Anstand. Die Frauen von Beamten hingegen kleideten sich in Mäntel, Kostüme oder schlichte moderne Kleidung. Als mein Vater Lehrer wurde, zog unsere Familie in die Stadt. Dort verbot er meiner Mutter, weiterhin den Tschador zu tragen. Er sagte: „In der Stadt herrschen nicht Glaube und Großgrundbesitz, sondern Demokratie.“ Nach zwei Wochen des Protests gab meine Mutter nach und passte sich dem Kleidungsstil der Stadt an. Als wir in den Sommerferien nach Halfeti zurückkehrten, fragte sie: „Soll ich den Tschador tragen oder moderne Kleidung?“ Mein Vater antwortete: „Du musst selbst entscheiden, wem du etwas vormachen willst – den Leuten in Halfeti oder Gott?“ Danach trug sie nie wieder den Tschador.


In meiner Kindheit erlebte ich die stille Trauer um ein Mädchen, das von ihrem Vater aus „Ehrgefühl“ ertränkt wurde. Die Menschen in Halfeti hatten etwas mit den Nachkriegsdeutschen gemeinsam: Sie konnten schweigen. Als Gendarmen nach dem Mord fragten, spielten alle die drei Affen – blind, taub, stumm. Manchmal ist Stille lauter als Trauergesänge oder Geschrei.
1974 kam ich nach Deutschland. Dort machte ich eine prägende Erfahrung: Eine Gruppe Frauen zog bemalt, einige in bunt gefärbten Bettlaken, trommelnd durch die Straßen und rief: „Hätte Maria abgetrieben, wäre uns Jesus erspart geblieben!“ Ich war schockiert. Ich stellte mir vor, Frauen in Istanbul würden rufen: „Hätte Amina abgetrieben, wäre uns Mohammed erspart geblieben!“ Sie hätten keine hundert Meter überlebt. Doch in Deutschland schauten die Leute interessiert, gleichgültig oder belustigt zu. Nonnen hielten Plakate mit der Aufschrift „Abtreibung ist Mord“. Aber die Demonstrantinnen wurden nicht angegriffen oder beschimpft. Ich fragte mich: Bin ich in einer freien Gesellschaft angekommen?
Nach 51 Jahren in Deutschland lautet meine Antwort: Nein – zumindest nicht in jeder Hinsicht. Deutschland wird keine freie Gesellschaft sein, solange es kein säkulares Land ist.
Bereits 1974 musste ich die Krankenpflegeschule verlassen, obwohl wir Blockunterricht hatten und keine deutsche Schülerin nachrücken konnte. Das war der Beginn meines Engagements für Migration und die Rechte von Migranten. Während bis 1967 viele Frauen eigenständig kamen, änderte sich dies nach der Rezession: Männer wurden nachgeholt, die Frauen übertrugen ihre Arbeitserlaubnisse ihren Ehemännern – und verschwanden wieder in der Küche. Eine Parallele zu deutschen Frauen nach dem Krieg – doch ohne, dass diese Parallele zu Protest oder Solidarität unter deutschen Frauen führte.
In den 1970er-Jahren stieg die Gewalt gegen Frauen, insbesondere durch saudi-arabische Einflussnahme: Kassetten kursierten, die predigten, wie eine „wahre muslimische Frau“ zu sein habe. Zeitgleich entstanden Frauenhäuser in Deutschland – viele waren bald voller muslimischer Frauen. Während emanzipierte deutsche Frauen in den 70ern „ihre Mitte“ suchten, sich lila kleideten und das Nicht-Rasieren zur politischen Tat erklärten, genossen aktive türkische Frauen in High Heels – mit oder ohne Dekolleté – ihre neue Freiheit. Mein erstes Treffen mit feministischen deutschen Frauen in Remscheid fand 1977 statt, in Köln etwa 1981 im legendären Frauenbuchladen.

Ich gründete Fraueninitiativen in Düsseldorf, Remscheid und Köln. Unser Ziel war: herauszufinden, wie wir zu den Frauen wurden, die wir sind. Die deutsche Gesellschaft sah uns durch eine spezielle Brille – auch ich konnte mich dem nicht ganz entziehen. Ich gründete Projekte zur Alphabetisierung nach der Paulo-Freire-Methode. Statt der üblichen Nähkurse bot ich Malerei, Philosophie und Psychologie an.
Die Gewalt in türkischen Arbeiterfamilien, meist bäuerlicher Herkunft, nahm zu. Manche deutschen Frauen – selbst in Frauenhäusern untergebracht – klauten die Adressen von Türkinnen und verkauften sie an deren Familien. Deshalb brachte ich viele Frauen privat unter – nicht alle waren einfach. Einige wenige nutzten die Situation aus, stahlen, telefonierten exzessiv oder benahmen sich, als müssten sie die Ehefrau ersetzen – und taten es auch.
Ich gründete zwei Kinderläden mit internationalem Ansatz, arbeitete in den Medien, engagierte mich in Medieninitiativen und war im Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Mein Ziel war es, selbstverständlicher Teil der Gesellschaft und der Medienlandschaft zu sein. Doch türkische Schauspielerinnen spielten meist nur Putzfrauen. Die sogenannte „türkische Sendung“ wurde betitelt als „Eine Sendung in Türkisch für Türken“. Was denn sonst? In Chinesisch? Dürfen andere nicht zuhören? Der unterschwellige deutsche Nationalismus spiegelte sich auch in der migrantischen Perspektive wider. Die Umbenennung der Sendung brachte mir nicht nur Freunde ein. Noch schwieriger war es, eine kurdische Sendung zu etablieren.
Meine Forderung nach einer Nachrichtensprecherin nicht-deutschen Aussehens – unabhängig von der Herkunft – wurde vom ARD-Programmdirektor abgelehnt: „Dann wären die Nachrichten nicht glaubwürdig.“ Immerhin wurde beschlossen, dass nicht-deutsche Schauspielerinnen Rollen spielen dürfen, ohne „die Türkin“ darstellen zu müssen. Endlich spielte eine Türkin im Tatort eine Kommissarin. Der eigentliche Durchbruch kam jedoch erst mit dem Privatfernsehen – dort traten erstmals auch schwarze Moderatorinnen auf. Die Öffentlich-Rechtlichen mussten nachziehen.
Durch den Brandanschlag in Solingen, bei dem fünf Frauen und Mädchen im Alter von vier bis 27 Jahren starben, kam ich in Kontakt mit Alice Schwarzer. Anstatt die deutschen Frauen aufzurufen, die Straßen von Solingen gemeinsam mit türkischen Menschen zu besetzen und zu trauern, hetzte sie gegen die Protestierenden, insbesondere gegen türkische Jungs. Meine Kritik an dieser Emma-Ausgabe führte zu meiner Teil-Isolation. Alice Schwarzer bestand darauf, dass ich nicht mehr eingeladen werde, wenn auch sie anwesend war. Trafen wir uns zufällig in der Südstadt, wurde ich mit „Na, Feindin“ begrüßt. So etwas hatte ich nicht einmal im tiefsten Ostanatolien erlebt, wo Clanrache als Kultur galt.
Schließlich wurde Herr Schäuble Innenminister und adelte die islamischen Verbände, indem er einen runden Tisch mit ihnen gründete – angeblich zur Förderung der Integration. Das war so sinnvoll wie ein Fuchsrudel mit der Bewachung von Schäfchen zu betrauen. Die Zahl der Frauenmorde – genannt „Ehrenmorde“ – stieg. Um aufzuklären, überarbeitete und übersetzte ich das Buch Scharia und die Frau von Prof. Dr. Ilhan Arsel ins Deutsche, eine grundlegende Kritik aus der Perspektive der Frauenrechte, unter dem Titel: Frauen sind eure Äcker, Alibri Verlag.
Außerdem gründete ich gemeinsam mit iranischen Exilantinnen und mit Unterstützung der Giordano-Bruno-Stiftung den Zentralrat der Ex-Muslime, um zu zeigen: Nicht alle, die aus islamischen Ländern kommen, sind Muslime. Nach der Ermordung von Hatun Sürücü schrieb ich das Buch Kein Schritt zurück – die Essenz meiner Erfahrungen mit Migration und Frauenrechten.
Meine persönliche Entwicklung wurde insbesondere durch Vorträge in den USA beeinflusst. Nach einem Vortrag in San Francisco sagten Zuhörer:innen: „Wir waren Deutsche und wurden verjagt, vergast. Es ist beeindruckend, wie Sie Ihre neue Heimat verteidigen.“ Nach diesen Vorträgen wurde ich oft gefragt, was meine persönlichen Interessen seien. Da wurde mir bewusst: In Deutschland war ich ganz auf Migration und Rechte fixiert – ich lebte und atmete dafür.
Wo war die Frau Arzu geblieben? Wie wäre mein Leben verlaufen, wenn Migrant:innen in Deutschland nicht im Schatten der deutschen Geschichte gestanden hätten?
Was wäre gewesen, wenn ich in die USA statt nach Deutschland ausgewandert wäre – und sofort Amerikanerin geworden wäre?
Jetzt, mit über siebzig, male ich, forme Skulpturen. Hätte ich die Chance gehabt, eine Künstlerin zu sein? Ich werde es nie wissen.
Nach 51 Jahren Leben in Deutschland überlege ich, wohin ich auswandern könnte. Ich weiß es noch nicht.
Ich lerne Französisch.
Bretagne? Madagaskar?
Arzu Toker
Werke
Belletristik
- Kein Schritt zurück“, Alibri, Aschaffenburg 2014[4]
- „Frauen sind eure Äcker“, von Ilhan Arsel und Arzu Toker, Alibri (Mai 2012)[5]
- Diverse Interpreten: Live-Mitschnitt einer Erzählnacht auf Schloss Burg im Bergischen Land, Mai 1999; WDR / Villa Ohl / Akademie Remscheid 1999
- „Samt und Seide“, in: Niki Eideneier (Hrsg.): … die Visionen deiner Liebeslust – Liebe und Erotik in der Fremde, Romiosini – Verlag, Köln, 1995[6]
- Kalimerhaba: griechisch-deutsch-türkisches Lesebuch (mit Niki Eideneier); Köln 1992[
Journalismus
- Rassismus und Südberichterstattung: Kriterien für Medienkritik und Berichterstattung / Media Watch, Heinrich-Böll-Stiftung e. V., Dritte-Welt-Journalisten-Netz e. V. Koordinationsausschuss, Köln 1994
- Simone Derix – Dokumentation und Auswertung der Berichterstattung in Printmedien über die 4. Weltfrauenkonferenz in Beijing vom 4. bis zum 15. September 1995 (mit Verfasserin); Köln 1995
- „Es gilt das gehaltene Wort, Grußworte an den verstorbenen Schriftsteller Heinrich Böll“, Demokratie in Gefahr? Hrsg. Rainer Schneider-Wilkes, Westfälischer Dampfbootverlag, 1995
- „In der Fremde sind wir noch abhängiger vom Mann“, Stuttgarter Zeitung, 1981
- „Zwischen staatlicher und alltäglicher Diskriminierung“, in: Türken Raus ?, Rolf Meinhardt (Hrsg.) Rowohlt, 1984
- „Ausländische Frauen“, Blätter der Wohlfahrtspflege, 1991
- „Die Deutschen haben den Nationalismus nicht gepachtet“, „Amerika noch einmal entdecken?“ Wir aktuell, Köln. Informationsblatt des Forums für besseres Verständnis zwischen Deutschen und Ausländern, 1992
- „Liebe Freundinnen des Kopftuchs“, Emma Juli/August 93
- „Eurozentristisches Feindbild oder Kritik am Islam?“ Sozialwissenschaftliche Forschung u. Praxis für Frauen ev (Hrsg.): BEITRÄGE zur feministischen Theorie u. Praxis, 1993
- „Italienische Sexbomben, türkische Kopftuchfrauen und andere Exotinnen: Migrantinnen im deutschen Fernsehen“ in: Verwaschen und verschwommen, Bärbel Röben/C.Wilß (Hrsg.) Brandes u. Apsel Verlag, 1996
- „Die Ehre ist verbrannt“, Kommentar zum Brandanschlag in Krefeld, TAZ, 1997
- Weitere Artikel in: Ost/West Wochenzeitung, der Freitag und TAZ („Hundert Jahre Schweigen“ „Die Morde von Sivas“ „Wir haben keine Nation“ „Mohammeds Rache“)
- „Zehn Gründe, aus dem Islam auszutreten“ (2007)
Auszeichnung
Abdi Ipekçi-Preis für Frieden und Freundschaft 1997