Wäre es nach den Wünschen meiner Großmutter gegangen, wäre ich eine streng muslimische Frau geworden, die nichts im Sinn hätte, außer zu beten und Vorsorge für das Jenseits durch Gottesfurcht zu treffen. Deshalb überredete sie meine Eltern, mich bei einem islamischen Kindergarten anzumelden, als ich fünf Jahre alt war. Dort lernte ich unter anderem, den Koran zu rezitieren. Diese Praxis wird angeblich als eine Art der Anbetung und Kommunikationsform mit Gott angesehen. Dass ich so früh den Koran lesen lernte, kam vor allem meiner Mutter zugute. Sie war gewohnt, besonders im Fastenmonat Ramadan, Deals mit Gott einzugehen: ER sollte ihr aktuelles Anliegen erfüllen; im Gegenzug würde sie dreißig oder vierzig Tage lang ununterbrochen nach dem Sonnenaufgang eine bestimmte Sure aus dem Koran – meistens Sure 36, Ya-Sin – lesen. Diese Art von Tauschgeschäft nennt man „Nasr“ (Gelübde). Das Problem war nur, dass Frauen während ihrer Menstruation von der Pflicht zu beten befreit sind, weil sie in dieser Zeit nach islamischen Regeln „unrein“ sind. Sie dürfen aber eine andere Person beauftragen, ihr Gelübde stellvertretend umzusetzen. Diese Person in meiner Familie war ich. So las ich nach Sahari, nach dem Essen vor dem Sonnenaufgang, die 83 umfassenden Verse der Ya-Sin. Manchmal dauerte es sehr lange, sodass ich keine Zeit mehr hatte, vor der Schule zu schlafen und direkt danach hinging.

© Christel Tünnesen
Wäre es nach dem Plan meiner Eltern gegangen, hätte ich nach dem Abitur nicht studieren dürfen, sondern geradewegs heiraten und eine brave und fromme Ehefrau mit vielen Kindern werden sollen. Ich hatte aber andere Pläne: Statt einem reichen Ehemann wollte ich der Gesellschaft dienen. So habe ich gegen den Willen meiner Eltern und trotz heftiger familiärer Auseinandersetzungen Jura studiert, in der Hoffnung, die Gesellschaft gerechter zu gestalten. Ich wurde aber maßlos enttäuscht, nachdem eine kurze Liebesgeschichte von mir veröffentlicht wurde und die Geheimdienstler sie als „Widerstand gegen die Pahlavi-Dynastie“ auslegten und mich einfach verhafteten: Ich saß 18 Monate im Gefängnis und hatte genug Zeit, über Gott und die – ungerechte – Welt nachzudenken. Danach änderte sich meine Einstellung zu Religion und zu politischen Systemen.
Wäre es nach den Absichten und Plänen des Khomeini-Regimes gegangen, hätte ich nach der Revolution 1979 noch einmal verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden müssen, weil ich mich als junge Schriftstellerin und Journalistin für Demokratie und engagierte Literatur eingesetzt hatte. Ich bekam aber rechtzeitig Wind davon und flüchtete vor den Passdaran (Revolutionswächtern), die mich eines Tages im Sommer 1983 in meiner Wohnung aufsuchten. Dass ich am Schluss meiner Flucht mit meiner Kleinfamilie – Tochter und Ex-Mann – in Deutschland gelandet bin, war ein Zufall. Mein „neues“ Leben wollte ich aber nicht dem Zufall überlassen. Deshalb versuchte ich, Deutsch zu lernen, um meinen früheren gesellschaftlichen Status als Journalistin und Schriftstellerin auch in Deutschland zu erlangen.
Wäre es nach der Ausländerpolitik der 1990er-Jahre in Deutschland gegangen, hätte ich den Regelungen des Ausländergesetzes zustimmen und mich mit meinem Ausländerdasein als Mensch zweiter Klasse zufriedengeben müssen. Ich war aber anderer Meinung und tat diese in verschiedenen Broschüren zum Thema Ausländergesetz kund. Auch eine Beratungsstelle zu diesem Thema habe ich errichtet. Dabei habe ich im Allerwelthaus in Köln eine internationale Medienstelle (Bibliothek und Archiv) mit dem Schwerpunkt Entwicklungs- und Asylpolitik aufgebaut und Interessierten den Zugang zu Literaur aus Afrika, Asien und Lateinamerika ermöglicht.
Mein soziales Engagement in diesem Rahmen habe ich später als Referentin für Migrantinnenangelegenheiten beim Frauenamt der Stadt Köln fortgesetzt und mich speziell für die Belange der nichtdeutschen Frauen eingesetzt. So habe ich unter anderem ein sozialpolitisches Forum in Form eines Netzwerkes von Migrantinnengruppen und -verbänden in Köln errichtet und zusammen mit meinen Mitstreiterinnen verschiedene Kongresse und Veranstaltungen zum Thema Migration (u. a. unter den sozialen und rechtlichen Aspekten) durchgeführt. Dabei habe ich bei der Konzepterstellung von Rundfunk- und Fernsehbeiträgen zum Thema Migrationsangelegenheiten und Flüchtlingsfragen mitgewirkt. Da in dieser Zeit die berufliche Zukunft der nichtdeutschen Frauen für ihre Integration besonders relevant war, habe ich im Rahmen meiner Tätigkeit beim Bunten FrauenNetzwerk Köln ein berufsorientiertes und soziales Beratungsangebot mit dem Schwerpunkt Erwerbslosigkeit/Erwerbstätigkeit für Migrantinnen aufgebaut, durchgeführt und sie in kommunale und europaweite Qualifizierungsmaßnahmen vermittelt.
Wäre es nach der deutschen Migrationspolitik um die Jahrtausendwende gegangen, wären ich und meinesgleichen verantwortlich für alle gesellschaftlichen Missstände gewesen und sollten mit Gewalt „beseitigt“ werden. So kam es zu rassistischen Anschlägen in mehreren Städten Deutschlands. Ich weigerte mich aber, die Rolle eines Sündenbocks zu übernehmen und habe mich für ein gleichberechtigtes und friedliches Miteinander aller in Deutschland lebenden Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Herkunft, Kultur und Religion eingesetzt. Dabei habe ich mit meinen Mitstreiter*innen verschiedene Veranstaltungen zum Thema Multikulturelle Kommunikation im sozialen Bereich durchgeführt und bei der Entwurfserstellung des Antidiskriminierungsgesetzes der Grünen mitgewirkt.
In all diesen Jahren habe ich trotz meines anspruchsvollen Berufslebens versucht, meine journalistische Tätigkeit nicht zu vernachlässigen und Kulturbeiträge sowie Buchbesprechungen über Neuerscheinungen aus persischen und islamischen Ländern für verschiedene deutsche Medien (u. a. taz und der Freitag) verfasst. Nach meiner Beschäftigung bei der Deutschen Welle im Jahr 2009 haben sich meine Handlungsspielräume erheblich erweitert, um einen wirksamen Beitrag zur Demokratisierung der deutschen Gesellschaft zu leisten.
Auch über meinen Renteneintritt hinaus setze ich dieses Engagement als freie Journalistin fort. Meine Visionen eines friedlichen Miteinanders in Deutschland spiegeln sich auch in meinen Romanen und Erzählungen wider. Über diese Vorstellungen diskutiere ich live mit meinem Publikum in zahlreichen Lesungen, die ich abhalte.
Fahimeh Farsaie
Auswahl der Veröffentlichungen:
Nassrins Öst-westliche Nacht, Dittrich Verlag, Köln/Berlin
Das giftige Grün des Herzens, Theaterstück, Westfälisches Landestheater
Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden, Dittrich Verlag, Köln/Berlin
Hüte dich vor den Männern mein Sohn, Roman, Dittrich Verlag, Köln/Berlin
Die Flucht und andere Erzählungen, Erzählband, Dittrich Verlag, Köln/Berlin
Vergiftete Zeit, Roman, Dittrich Verlag, Köln/Berlin
Die gläserne Heimat, Erzählband, Dittrich Verlag, Köln/Berlin
(Alle o. g. Titel liegen auch auf Farsi und z. T. auf Englisch und Spanisch vor)
Das Warten, Hörspiel
Asche der Liebe, Drehbuch (Spielfilm)
Auszeichnungen
Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung
Preis für Exilliteratur des Barans-Fonds, Schweden
Literaturstipendium des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW
Drehbuchförderung des Filmbüros NRW
Literaturförderung Kunstsalon 2019
Literaturstipendium der Stadt Köln für das Atelier Galata, dreimonatiger Aufenthalt in Istanbul 2019