Dr. Emmy Wingerath gehört wohl zu den fortschrittlichsten Persönlichkeiten der Katholischen Frauenbewegung der 1920er Jahre. Die Verfassung der Weimarer Republik, die den Frauen seit 1919 das aktive und passive Wahlrecht garantierte, hatte sie regelrecht „elektrisiert“. Die promovierte Nationalökonomin war der festen Überzeugung, dass die völlige Gleichberechtigung der Frauen in greifbarer Nähe lag. So schrieb sie 1928: „Ein neues Frauengeschlecht steht vor uns, das ernst und mutig seine neuen Pflichten erkannt hat und in der Familie, aber auch in der außerhäuslichen Erwerbsarbeit wie im politischen Leben seinen besonderen Aufgaben nachkommen kann.“ Damals konnte sie nicht ahnen, dass die Nationalsozialisten nur fünf Jahre später die Uhren für die deutschen Frauen wieder zurückdrehen würden.
Abgesehen von ihrem beruflichen Werdegang weiß man leider nur recht wenig über das Leben von Emmy Wingerath. Geboren wurde sie am 28. Januar 1894 in Essen. Doch wer waren die Menschen, die sie entscheidend geprägt haben? Kamen wichtige Impulse aus dem Elternhaus oder aus der Schule? Solche Fragen müssen unbeantwortet blieben. Vermutlich wuchs sie in einem katholischen Milieu auf, in dem Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft eine Rolle spielten. Darauf könnte zumindest das Thema ihrer Promotion hinweisen, mit der sie im Februar 1919 ein Studium der Nationalökonomie in München und Heidelberg abschloss: „Die Organisation der kirchlichen Armenpflege durch Vinzenz von Paul in Frankreich im 17. Jahrhundert.“
Noch im gleichen Jahr fand Dr. Emmy Wingerath eine Anstellung beim Katholischen Deutschen Frauenbund (KDFB), wo sie als Dezernentin für staatsbürgerliche Schulung arbeitete. Es war ihre Aufgabe, „die politische Schulungsarbeit in den Zweigvereinen, insbesondere durch Vorträge und Abhaltung von örtlichen Kursen“ zu leisten. Hintergrund war die Tatsache, dass die katholische Zentrumspartei zwar froh war, dass sie nunmehr auch von Frauen gewählt werden konnte. Aber allzu viel politisches Engagement des weiblichen Geschlechts hielt man nicht für wünschenswert. Die Frauen sollten sich auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter beschränken und bestenfalls ehrenamtlich im kirchlichen und karitativen Bereich tätig sein. Der Katholische Deutsche Frauenbund, der diese Einstellung so nicht teilte, hatte mit Emmy Wingerath eine engagierte Kämpferin für die Berufstätigkeit der Frauen und ihre Mitwirkung in der Politik gefunden. Es ärgerte sie, dass das weibliche Geschlecht von Männern nach wie vor gehindert wurde, sein volles Potential auszuschöpfen. Dabei warf sie auch einen Blick in die Geschichte zurück: Schon im Mittelalter habe es Frauen gegeben – genannt sei nur die berühmte Äbtissin Hildegard von Bingen -, die sich kritisch mit der Politik auseinandersetzten und sich nicht scheuten, den Mächtigen der Welt ins Gewissen zu reden. Erst in der „Biedermeierzeit“ des 19. Jahrhunderts sei die Frau auf die berühmten drei K´ s beschränkt worden: Kinder, Küche, Kirche. Das aber sei längst nicht mehr zeitgemäß. Trotzdem gäbe es noch zahlreiche Frauen, die damit zufrieden seien.
Das wollte Emmy Wingerath ändern. Frauen sollten sich genauso politisch engagieren wie die Männer. Sie schrieb, dass „traditionsgebundene und gefühlsmäßige Anschauungen“ in der „Durchschnittsfrau auf Kosten des eigenen Selbstbewusstseins den Glauben an die männliche Überlegenheit tief verwurzelt“ hätten. Dies habe zu der Bereitschaft geführt, „vor der Frau im Manne die Vertretung ihrer Interessen zu erblicken“. Die „männlichen Parteikreise“ würden aus dieser Situation „ihre besten und zugkräftigsten Argumente gegen die Frauenmandate“ nehmen. Sie würden „mit billigen Aphorismen“ argumentieren wie z.B. „Die Frauen sind von Hause aus unpolitisch, die Frauenmandate werden nur von einem kleinen Kreis der Frauenrechtlerinnen vertreten, die Frauen können im Parlament ebenso gut und besser durch einen Mann vertreten werden.“ Doch dazu – so Emmy Wingerath – müsse sich auch der KDFB stärker engagieren. Er solle Frauen aus allen gesellschaftlichen Schichten aufnehmen und ihr staatsbürgerliches Interesse wecken. Nur so könnten Frauen ihre Persönlichkeit voll entfalten.
Vielleicht stieß Emmy Wingerath, nach ihren eigenen Worten eine „überzeugte Anhängerin der Frauenbewegung“, mit ihren Forderungen bei den eher konservativ geprägten Frauen des KDFB auf Widerstand und sah sich in einer gesellschaftspolitischen Sackgasse. Auf jeden Fall gab sie 1925 ihre Stelle als Dezernentin auf und arbeitete bis 1931 als Sozialreferentin beim Kölner Wohlfahrtsamt. Hier fungierte sie als Kontaktperson zwischen städtischer und freier Wohlfahrtspflege.
Gleichwohl blieb Emmy Wingerath der Frauenbewegung auch weiterhin verbunden und organisierte staatsbürgerliche Schulungen. 1928 fand in Köln die „Pressa“ statt, die internationale Presseausstellung, an der sich auch verschiedene Frauengruppen beteiligten. Emmy Wingerath veranstaltete Führungen durch die Abteilung „Frau und Presse“ und hielt Vorträge. In einem Text zum gleichnamigen Thema berichtete sie über schreibende Frauen und ihre Publikationen vom Mittelalter bis zur Neuzeit und betonte die Notwendigkeit, „die Tagespresse auch den besonderen Bedürfnissen der Frauen anzupassen und sie ihr in allen Teilen nutzbarer zu machen.“
1931 erhielt Emmy Wingerath einen Lehrauftrag für Staatsrecht und Sozialarbeit am Berufspädagogischen Institut in Köln, bevor sie 1933 nach Frankfurt am Main wechselte.
Wie sie die Zeit des Nationalsozialismus verbrachte, ist nicht bekannt. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs finden sich wieder Spuren von ihr. Zwischen 1946 und 1949 arbeitete sie als Lehrerin in Rheydt und war danach bis zu ihrer Pensionierung 1960 zunächst als Referentin, später als Ministerialrätin im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen. Im November 1960 wurde Emmy Wingerath mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Anschließend lebte sie im Ruhestand, bis sie am 29. November 1975 in Düsseldorf starb. Sie wurde 81 Jahre alt.
Karin Feuerstein-Prasser
Quelle
Birgit Sack, Dr. Emmy Wingerath 1894-1975 in: „10 Uhr pünktlich Gürzenich“, Münster 1995.
Emmy Wingerath – Wikipedia, aufgerufen am 11.3.2024.