„Wer bin ich? Eine, die so viele Namen wie Berufe hatte“, so beginnt die herausragende Journalistin und Schriftstellerin ihre Autobiografie.
1925 als Erika Asmuss in Ahlbeck auf Usedom geboren und 2006 in Berlin mit dem selbst gewählten Namen Carola Stern gestorben, verbrachte sie fast 40 Jahre in Köln. Es waren ihre glücklichsten Jahre: als Verlagslektorin bei Kiepenheuer & Witsch, als Redakteurin und Abteilungsleiterin für die Programmgruppe Kommentare und Feature beim WDR. Sie war die erste Frau, die die Tagesthemen der ARD kommentieren durfte. Später hat sie Biografien über emanzipierte Frauen wie Dorothea Schlegel, Rahel Varnhagen, Fritzi Massary und Johanna Schopenhauer sowie Doppelbiografien über Isadora Duncan und Sergej Jessenin, Helene Weigel und Bertolt Brecht und Marianne Hoppe und Gustav Gründgens verfasst. Insgesamt hat sie 22 Bücher geschrieben oder herausgegeben. Kaum eine andere deutsche Publizistin ist mit so vielen Preisen ausgezeichnet worden: vom Jakob-Kaiser-Preis über die Carl-von-Ossietzky-Medaille bis zum Großen Verdienstkreuz. Die Carola-Stern-Stiftung unterstützt verfolgte Autoren und deren Familien.
Obwohl sie sehr bekannt war, hat sich Carola Stern so rückhaltlos offen zu ihrer Verführbarkeit in Nazi-Deutschland als stolze „Jungmädelführerin“ und Mitglied des BDM bekannt, dass es einem bei der Lektüre ihrer Autobiografie beinahe wehtut. „In den Netzen der Erinnerung – Lebensgeschichten zweier Menschen“ beschreibt sie neben ihrem eigenen den diametral gegenläufigen Lebenslauf ihres späteren Mannes Heinz Zöger, eines jungen Kommunisten, der als Widerständler im Dritten Reich und später als Dissident in der DDR jahrelang in Zuchthäusern eingesperrt war, bevor sie sich als Kolleg*innen im WDR begegneten. Beide fragten sich im Alter, wie es geschehen konnte, dass sie früher den totalitären Regimen von Hitler und Stalin als Gläubige gedient hatten. Beide lernten, „nicht länger Objekt zu sein, ´Ich` zu sagen, außerhalb von Kollektiven am Geschehen mitzuwirken“. Sie wollten Zeitzeugenschaft ablegen, statt zu schweigen oder zu vertuschen und politische Verfolgung zu dulden. Deshalb hat Carola Stern 1961 die deutsche Sektion von „amnesty international“ mitgegründet und später deren Vorsitz übernommen.
Die jugendliche Erika wuchs als Tochter einer verwitweten Fremdenheimbesitzerin in einem pommerschen Dorf unter Fischern und Sommergästen auf und machte ihr Abitur im heute polnischen Swinemünde. Als Nazideutschland besiegt war, musste sie mit ihrer Mutter und ihrem 14jährigen Schwager „querfeldein, ziellos Richtung Westen“ fliehen. Jetzt ging es um das nackte Überleben: Wir klauten Lebensmittelkarten, eine graue Soldatendecke von einem kanadischen Jeep, Obst aus Bauerngärten…und arbeiteten als Reinigungskräfte und Hauspersonal nur für Verpflegung und vierzig Pfennig pro Tag“. Sie verdingte sich als Handleserin, Landarbeiterin und schließlich als Verwalterin einer Fachbibliothek in Bleicherode, wo deutsche und sowjetische Spezialisten Raketen bauten. Nach der Verlagerung des Betriebes in die UdSSR begann sie eine Lehrerausbildung und arbeitete danach als Lehrerin in einer brandenburgischen Dorfschule, was ihr aber gar nicht lag. Bei einem Besuch von Verwandten in Westberlin wurde sie von einem „Mr. Becker“ vom Counter Intelligence Corps (CIC) der US-Army angesprochen, ob sie nicht ihre schwerkranke Mutter in einer der besten West-Berliner Kliniken behandeln lassen wolle. Dafür sollte sie in die SED eintreten, dort Karriere machen und dem CIC darüber berichten. Sie willigte ein. Ihre Mutter starb 1948, nun war sie ohne Eltern und Geschwister und glaubte, in den deutschstämmigen Führungsoffizieren, die als Kind vor Hitler ins amerikanische Exil getrieben worden waren, „so etwas wie Wahlverwandte“ gefunden zu haben. In ihrem Auftrag wurde sie schließlich Dozentin an der SED-Parteihochschule, der Kaderschmiede des künftigen Führungspersonals der DDR. Als 75jährige versuchte sich Carola Stern, in die ihr „fremd gewordene junge Frau hineinzuversetzen“, die sich den stalinistischen Unterwerfungsritualen von „Kritik und Selbstkritik“ anpassen musste und sich dabei selbst verlor. Später fragte sie sich, ob sie mehr dem amerikanischen Geheimdienst oder der SED gedient hatte. „Ich redete, was ich selbst nicht glaubte, und lehrte andere, es mir nachzumachen“. Sie habe die Erinnerung an diese Zeit des Kalten Krieges in sich versiegelt und Schuld auf sich geladen, bekennt sie in ihrer Autobiografie. Nach einem Verhör der Parteikontrollkommission floh die 26jährige, von einer Freundin verraten, Hals über Kopf nach Westberlin. Dort begann sie ein Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität und verfasste Bücher über den Parteiapparat und die Agitation und Propaganda der SED. Als Spezialistin für DDR-Wissenschaft schrieb sie nun zu ihrem Schutz unter dem Pseudonym Carola Stern, war aber dennoch zwei vergeblichen Entführungsversuchen durch Stasi-Agenten ausgesetzt. Deshalb wollte sie weg aus Berlin, unternahm eine Weltreise, konnte aber nicht mehr schreiben und geriet in die schwerste Krise ihres Lebens. „Nur wer weiß, was Angst bedeutet, und versteht, sie zu bezähmen, kann auch mutig sein.“
Danach wurde sie Redakteurin im Kölner SBZ-Archiv, einer Fachzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur der DDR, und verfasste eine Biografie von Walter Ulbricht. „Am Rhein lernt man Weltaufgeschlossenheit und Toleranz“, Qualitäten, die sie vorher so sehr vermisst hatte. 1960 wechselte sie in das politische Lektorat von Kiepenheuer & Witsch und veröffentlichte dort u.a. Rudolf Bahros „Alternative“, Karl Dietrich Brachers Standardwerk über die NS-Zeit „Die braune Revolution“ und Peter Benders „Offensive Entspannung. Möglichkeit für Deutschland“. Ihre Themen waren die neu entstandenen Bürgerrechtsbewegungen, Menschenrechte und Entspannung zwischen Ost und West. Durch ihre Tätigkeit für „amnesty international“ entwickelte sich eine freundschaftliche Beziehung zum Bundespräsidenten Gustav Heinemann und seiner Frau Hilda. Daraus entstand das Buch „Zwei Christen in der Politik – Gustav Heinemann und Helmut Gollwitzer“ sowie eine Monografie über den Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. 1971 unterzeichnete sie im „Stern“ das Bekenntnis „Wir haben abgetrieben“, konnte aber die Radikalität der Frauen, eine weibliche Gegenkultur zu entwickeln und den Zutritt für Männer zu verbieten, nicht teilen. Im Rückblick sah sie die Frauenbewegung viel positiver, freute sich über erfolgreiche Frauen in den Medien und Väter mit Kinderwagen.
Ihre „besten Jahre“ erlebte Carola Stern als Redakteurin im WDR-Hörfunk. Mit Heinrich Böll und Günter Grass gab sie die Zeitschrift „L ´76“, später in „L ´80“ umbenannt, heraus – ein Forum für bedrohte, verfolgte und vertriebene Autoren aus Osteuropa und der DDR. Mit beiden pflegte sie auch privat eine enge Beziehung. Bei aller Prominenz ist sie gegenüber einer jungen Journalistin wie mir eine äußerst zugewandte Redakteurin geblieben, ohne einen Anflug von Überheblichkeit. 1985 verließ sie mit sechzig Jahren den WDR und begann einen „unruhigen Ruhestand“ als erfolgreiche Schriftstellerin in Berlin und ihrer Heimat Usedom. „Keines meiner Bücher ist mir so schwer gefallen wie dieses“, bekennt sie 2001 in ihrer Autobiografie „Doppelleben“. Was für ein Leben!
Barbara Böttger
Quellen:
- Carola Stern: Doppelleben, Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek bei Hamburg 2002
- Carola Stern: In den Netzen der Erinnerung – Lebensgeschichten zweier Menschen, Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg 1986.