Eigentlich müsste ihr die EKD, Deutschlands evangelische Kirche, ein Denkmal setzen. In den 1920er Jahren gehörte Annemarie Rübens zu den Vorkämpferinnen für die Gleichberechtigung von Frauen im Pfarramt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten konnte sie diesen Kampf allerdings nicht mehr fortsetzen. Sie emigrierte nach Uruguay, gab ihrem Leben eine neue Wendung und kümmerte sich intensiv um die zahlreichen deutschen Auswanderer, die vor dem NS-Regime fliehen mussten, später auch um einheimische politisch Verfolgte.

© Ernesto Kroch

Annemarie Rübens kam am 20. Mai 1900 als Kind einer großbürgerlichen deutschen Familie in Banfield/ Argentinen zur Welt. 1909 verließen sie Lateinamerika, kehrten zurück nach Deutschland und fanden eine neue Heimat in Köln. Hier beendete Annemarie die Schule und begann nach dem Abitur 1920 zunächst eine Ausbildung zur Landschaftsgärtnerin im Sauerland. Anschließend studierte sie Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Köln, wechselte dann jedoch zur evangelischen Theologie in Marburg. Vermutlich lag diese Neuorientierung in der familiären Situation begründet, dem Spannungsfeld zwischen dem katholischen, aber ungläubigen Vater und der streng-protestantischen Mutter. Dem wollte Annemarie auf den Grund gehen.

In Marburg schloss sie Freundschaft mit drei anderen Theologiestudentinnen, Elisabeth von Aschoff, Ina Gschlössel und Anne Schümer. 1927, in dem Jahr, in dem die jungen Frauen ihr Examen ablegten, hatte die evangelische Kirche der Altpreußischen Union ein Kirchengesetz verabschiedet, das sogenannte „Vikarinnen Gesetz“. Es legte bestimmte Arbeitsgebiete für sie fest: Wortverkündigung im Kindergottesdienst oder in Bibelstunden, Lehrtätigkeit innerhalb des kirchlichen Unterrichts oder an Berufsschulen, Seelsorge in Gefängnissen, Krankenhäusern und Altenheimen. Ausgeschlossen blieben Frauen auch weiterhin vom eigentlichen Pfarramt.

Das wollten Annemarie Rübens und ihre Freundinnen nicht hinnehmen. Als alle vier noch im gleichen Jahr zur praktischen Ausbildung dem Kölner Pfarrer Georg Fritze (1874-1939) zugeteilt wurden, fanden sie in ihm einen engagierten Mitstreiter. Auch Fritze, bekannt als der „rote Pfarrer“ forderte schon seit längerem die Gleichberechtigung der Frauen auch im Pfarramt. Doch die evangelische Kirche war zu keinen Zugeständnissen bereit. Empört schrieb Annemarie Rübens in der Zeitschrift „Die christliche Welt“, vom Amt der Vikarin bliebe „nichts übrig als die gelegentliche Vertretung und dauernde Kleinarbeit und Gehilfinnentätigkeit unter Leitung des verantwortlichen Theologen…Unter dem Vorwand des ´Dienens´ verlangt man von uns Theologinnen, dass wir unsere Zeit vor allem dazu verschwenden, die Korrespondenz des Pfarrers zu führen, die Päckli für die Sonntagsschulweihnacht einzupacken, die Tassen nach einem Gemeindeabend zu waschen.“

Doch Annemarie Rübens blieb keine andere Wahl. Entsprechend dem „Vikarinnen Gesetz“ übernahm sie 1930/31 eine Stellung als Religionslehrerin an den Kölner Berufsschulen für Arbeiterinnen und gewerbliche Hausangestellte. Nach dem zweiten Staatsexamen wurde sie im März 1933 Gemeindevikarin.

Damals waren schon die Nationalsozialisten an der Macht, die die aufmüpfige Theologin, inzwischen auch Mitglied der SPD, mit Misstrauen beobachteten. Annemarie Rübens scheute sich nämlich nicht, scharfe Kritik an der menschenverachtenden NS-Ideologie zu üben. So sagte sie im April 1933 in einer Predigt: „Unsere Liebe muss rein bleiben, es darf sich mit ihr kein Hass verbinden. Weder der Hass gegen andersdenkende Volksgenossen noch gegen blutsfremde Volksgenossen noch gegen fremde Völker…Die Flut des Hasses gegen Volksgenossen, die frei von nationaler Leidenschaft sind, steigt täglich. Gleicherweise auch die Flut des Hassen gegenüber unseren jüdischen Volksgenossen.“

Das konnten weite Teile der evangelischen Kirche nicht akzeptieren. Die überwiegende Mehrheit der „Deutschen Christen“ passte sich der NS-Ideologie widerspruchslos an und war nicht minder rassistisch und antisemitisch eingestellt.

Im Oktober 1933 wurde Annemarie Rübens entlassen, ebenso ihre drei Marburger Freundinnen, die sich mit ihr solidarisch erklärt hatten. Sie wurden schon bald als die „vier Kölner Vikarinnen“ bekannt.

Spätestens jetzt war der jungen Frau klar, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr hatte. Der „rote Pfarrer“ Georg Fritze vermittelte ihr einen Kontakt in die Niederlande, wo sie vorübergehend in einer Gärtnerei arbeitete, die von einem evangelischen Theologenpaar geführt wurde. Doch auch hier fehlte Annemarie Rübens eine wirkliche Perspektive. 1936 entschloss sie sich daher, nach Uruguay zu emigrieren, wo sich ihr Bruder Hans eine Existenz aufgebaut hatte. Obwohl der völlig überraschend noch vor ihrer Ankunft starb, beschloss sie dort zu bleiben. Von dem Erbe, das er ihr hinterlassen hatte, erwarb sie einen alten Bauernhof, verkaufte Blumen und selbst angebautes Gemüse. Schon bald aber wurde „Haus Rübens“ zur Anlaufstelle zahlreicher vom NS-Regime verfolgter Emigrant*innen, die sich in dem fremden Land erst zurechtfinden mussten. Ganz im christlichen Sinne tätiger Nächstenliebe nahm sich Annemarie Rübens der Gestrandeten an, organisierte gemeinsame Wanderungen, gab ihnen Arbeit auf den Feldern und im Garten.

Annemarie Rübens mit Hans Lehmann, Mai 1988. © Ernesto Kroch

1943 ging mit der Geburt von Sohn Thomas endlich ein Herzenswunsch in Erfüllung. Einen Mann hingegen wollte sie nie haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Annemarie Rübens vorübergehend nach Deutschland zurück, konnte hier aber beruflich nicht Fuß fassen. Als 1973 in Uruguay die Militärdiktatur ausgerufen wurde, bewährte sich „Haus Rübens“ erneut als Zufluchtsstätte politisch Verfolgter. Vor allem Kinder getöteter Widerstandskämpfer- und -kämpferinnen fanden hier nach ihren traumatischen Erlebnissen einen sicheren Schutzraum.

1975 fuhr Annemarie Rübens noch einmal nach Deutschland, um Spendengelder zu sammeln. Doch sie kehrte nicht mehr nach Uruguay zurück, weil sie auf der Fahndungsliste der Militärs stand. Wäre sie jünger gewesen, hätte sie vielleicht als Pastorin arbeiten können, denn 1958 hatten die evangelischen Landeskirchen damit begonnen, nach und nach auch Frauen für das Pfarramt zuzulassen. Stattdessen zog Annemarie Rübens nach Tübingen, engagierte sich in einem Dritte-Welt-Laden und blieb auch ansonsten politisch aktiv.

Als sich gesundheitliche Probleme einstellten, zog sie in eine Senioreneinrichtung in Göttingen, wo sie am 8. Mai 1991 kurz vor ihrem 91. Geburtstag starb. Im Jahr zuvor war ihr noch eine besondere Ehrung zuteilgeworden: Im Armenviertel von Montevideo wurde eine Tagesstätte für Kinder eingerichtet und nach ihr benannt.

Aber auch hierzulande sind Erinnerungen an sie lebendig, wie Luise Pusch (5) berichtet: „Als das Portrait von Annemarie Rübens im Kalender 2000 zum 100. Geburtstag erschien, freute sich Helke Sander sehr. Annemarie Rübens war nämlich ihre Lehrerin am Gymnasium in Remscheid gewesen, in den 1950er Jahren. Rübens war bei ihren Schülerinnen äußerst beliebt, ein leuchtendes Beispiel an Güte und Toleranz. Ihr Spitzname war ‚Rübchen‘.“

Karin Feuerstein-Prasser

Quellen:

  1. Foto: Ernesto Kroch und Eva Weil: Für die Kinder der Verfolgten. Erinnerungen an Ana María Rübens (1900-1991). In ila 235 (Mai 2000) S. 28–32.
  2. Nachruf: Zum Tode von Annemarie Rübens am 8.5.1991 in: Reformierte Kirchenzeitung 7/8 1991, S. 249-251.
  3. Schmidt, Klaus, Annemarie Rübens, in: Internetportal Rheinische Geschichte, abgerufen unter: https://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Persoenlichkeiten/annemarie-ruebens/DE-2086/lido/5e85f4f524da68.39005628 (abgerufen am 21.08.2024)
  4. Annemarie Rübens (fembio.org) (abgerufen 25.8.2024)
  5. Pusch, Luise F., persönliche Mitteilung an Maria Beckermann, 25. August 2024.