Das Elternhaus von Edith Stein in Breslau war liberal jüdisch und weltoffen. Der Vater starb früh. Ihre Mutter, Auguste Stein, war eine erfolgreiche Kauffrau, die mit ihrer Berufsarbeit eine große Familie mit sieben Kindern nicht nur ernährte, sondern auch allen Kindern eine Schul- und Berufsausbildung ermöglichte. Edith Stein gehörte 1911 in Breslau zur ersten Studentinnen-Generation in Preußen.

 Besonders Philosophie und die phänomenologischen Schriften von Edmund Husserl interessierten die begabte Studentin. Sie wechselte an die Universität Göttingen, dem Zentrum der phänomenologischen Philosophie, gewann die Aufmerksamkeit Husserls und die Freundschaft vieler Studienkolleg*innen. Ihr Berufswunsch änderte sich, von der Lehrerin zur akademischen Forschung und Lehre.

Edith Stein als Studentin, © Edith-Stein-Archiv

1914 unterbrach sie als preußische Patriotin ihr Studium, arbeitete in einem Lazarett und fühlte sich ihren Studienkollegen an der Kriegsfront gleichgestellt.  Mit ihrer Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen pflegte sie die schwerverletzten Soldaten. Allerdings sah sie bald in ihrer philosophisch-wissenschaftlichen Arbeit einen wichtigeren Gesellschaftsbeitrag als im Lazarettdienst.

Neben Fragen zwischenmenschlicher Beziehungen, Empathie und Intersubjektivität versuchte sie das Wesen des Weiblichen mit phänomenologischen Erkenntnismethoden zu ergründen – ihre Erkenntnisse zur Geschlechterdifferenz setzt sie in Beziehung zu späteren feministischen Körperphilosophinnen.

Ihre mit „summa cum laude“ bewertete Dissertation zur Einfühlung qualifizierte sie zur ersten Hochschul-Assistentin der Philosophie. Edith Stein leitete Hochschulseminare in Freiburg und unterstützte die Arbeit ihres Professors, allerdings ohne seine Anerkennung und Unterstützung für ihre wissenschaftliche Arbeit und eine Habilitation zu bekommen. Enttäuscht trennte sie sich 1918 von Husserl und ihrer Assistentinnen-Stelle.

Nach den traumatischen Kriegs-Erfahrungen ihrer Generation sah sie eine politische Neuordnung für Deutschland, ja für ganz Europa als zwingend notwendig an. Als Mitglied der neu gegründeten Deutschen Demokratischen Partei war das Frauenwahlrecht ihr wichtigstes Anliegen. Schon als Schülerin hatten sie Fragen der Frauenemanzipation stark bewegt. Doch bald musste die junge Aktivistin einsehen, dass sie mehr Philosophin als Politikerin war.

Ihre Hoffnung auf ein neues Deutschland, in dem sie als Frau auf einen Lehrstuhl der Philosophie berufen würde, erfüllte sich nicht. Vier Bewerbungen auf Zulassung zur Habilitation wurden abgelehnt, nicht die Weimarer Verfassung, sondern das patriarchalen Hochschulsystems und zunehmender Antisemitismus verhinderten ihre Hochschulkarriere.

Nun arbeitete sie als freie Wissenschaftlerin in Breslau und Bergzabern. Sie ordnete den wissenschaftlichen Nachlass ihres Göttinger Lehrers und Kollegen Adolf Reinach, der 1917 an der Front getötet wurde. Seine im Krieg entstandenen „Religionsphilosophischen Schriften“ wurden für Edith Stein wegweisend, und sie wandte sich verstärkt philosophisch-christlich-religiösen Fragen zu.

Bei ihrer Suche fand sie auch Antworten bei einer großartigen Frau, der spanischen Mystikerin, Schriftstellerin und Karmelitin Theresa von Avila (1515-1582). Edith Stein konvertierte 1922, sie wurde katholisch und begann, die wieder entdeckten klassischen Werke des Scholastikers Thomas von Aquin zu übersetzen.

Mit 31 Jahren wurde Edith Stein Lehrerin an einer großen Klosterschule in Speyer, war pädagogisch erfolgreich, doch in erhaltenen Briefen an ihren engen Freund und Kollegen Roman Ingarden, schrieb sie, wie schmerzlich sie den wissenschaftlichen Diskurs und eine Perspektive an der Hochschule vermisst. Zehn Jahre später wechselte sie an das Deutsche Institut für wissenschaftliche Pädagogik in Münster.

Dort versucht sie die Phänomenologie weiter zu durchdringen und sie aus dem Blickwinkel der emanzipierten Frau, liberalen Pädagogin und aufgeklärten Katholikin zu interpretieren. Sie wurde eine gefragte Referentin, die zu Gastvorlesungen, pädagogischen Kongressen und philosophischen Tagungen im gesamten deutschsprachigen Raum und Frankreich eingeladen wurde.

Edith Stein als Karmelitin, © Edith-Stein-Archiv

In ihrer Abhandlung „Individuum und Gemeinschaft“ gab Edith Stein den aufkommenden Sozialwissenschaften eine philosophisch-phänomenologische Basis: sie definierte die Termini „Gemeinschaft und Gesellschaft“ differenziert und grenzte sie gegen den vom NS ideologisierten Begriff  der „Volksgemeinschaft“ ab.

Im Frühjahr 1933 plante Edith Stein, Papst Pius XI persönlich über die Folgen von Hitlers Machtübernahme zu informieren und eine päpstliche Enzyklika zu erwirken. Weil es keine Chance für ein persönliches Gespräch gab, schickte sie dem Papst einen Brief und wies darauf hin, dass auch diejenigen für die Opfer verantwortlich sind, die zu den Verbrechen schweigen. Dieser unbeantwortete Brief ist ein zeit- und kirchenhistorisch wichtiges Dokument, das erst 2003 (!) vom Vatikan Geheimarchiv für die NS-Forschung frei gegeben wurde.

Mit dem Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im April 1933 verlor sie ihre Dozentinnen-Stelle und realisierte ein generelles Berufsverbot in Deutschland. Die inzwischen 42jährige Wissenschaftlerin jüdischer Abstammung und ohne Vermögen entschied sich im Oktober 1933, in den Kölner Karmel einzutreten. Sie sah sich in der Nachfolge von Theresa von Avila und wählte den Namen: Schw. Theresia Benedicta a Cruce O.C.D.

„Ich werfe unserer Zeit vor, dass sie starke und zu allem Guten begabte Geister zurückstößt, nur weil es sich um Frauen handelt“ schrieb Theresa von Avila im 16. Jh. Diese Erfahrung machte auch Edith Stein.

Die strengen Ordensregeln erlaubten ihr, konzentriert wissenschaftlich zu arbeiten. 1935/1936 entstand eins ihrer wichtigsten philosophischen Werke, „Endliches und ewiges Sein“. Darin führt sie die phänomenologische Philosophie und die christlich-jüdische Gottessuche zusammen.

Das Publikationsverbot für jüdische Autor*innen galt auch für die Karmelitin. Erst 1950 erschien posthum ihre philosophische Antwort auf Heideggers Schrift „Sein und Zeit“. (Heidegger war Edith Steins Nachfolger auf der Assistent*innenstelle bei Husserl.)

Ihr religiös bestimmtes Leben hinderte sie weder am wissenschaftlichen Austausch mit ehemaligen Kolleg*innen noch an politischen Stellungnahmen. In ihren „Kreuzeswissenschaften“ über die Leidensmystik des Johannes a Cruce, eines Schülers von Theresa von Avila, setzte sie sich auch mit dem großen Leid ihres jüdischen Volkes auseinander.

Nach dem November-Progrom 1938 entschloss sie sich zur Emigration. Mit ihrer Schwester Rosa wurde sie von den Karmelitinnen in Echt aufgenommen. Mit der Besetzung der Niederlande im Frühjahr 1940 holte sie die Bedrohung wieder ein. Ihre Versuche, über private Kontakte in die Schweiz oder nach Palästina zu emigrieren waren erfolglos. Vom Vatikan wurde sie nicht unterstützt.

Nach öffentlichen Protesten gegen die Juden-Verfolgung in den Niederlanden verschärfte sich die Deportationspolitik der deutschen Besatzer. Edith und Rosa Stein wurden am 2. August von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo beide am 9. August 1942 in der Gaskammer ermordet wurden. Als Opfer der Shoa, christliche Heilige und Patronin Europas genießt Edith Stein heute weltweites Ansehen.

Ihr Nachlass ist im Edith-Stein-Archiv gesammelt und die philosophischen und theologischen Schriften sind in 27 Bänden der Edith-Stein-Gesamtausgabe vom Herder Verlag veröffentlicht.

Autorin: Marlene Tyrakowski

Quellen

  • Edith Stein, Autobiographische Schriften einer suchenden Frau, Wien, 2016
  • Klaus-Rüdiger Mai, Edith Stein, Geschichte einer Ankunft, München, 1922
  • Philosophie Magazin, Philosophinnen, Sonderausgabe 13.10.1019